Ukraine tritt seit 2003 beim Eurovision Song Contest (ESC) auf. Trotz der recht kurzen Laufbahn bei dem Wettbewerb, der seit 1956 jährlich veranstaltet wird, kann das europäische Land auf viele Erfolge zurückblicken. An dem Konzept, dass die internationale Musikveranstaltung kein politisches Event sei, halten die Organisator:innen weiterhin fest. Wer jedoch das politische Geschehen in Europa und die Ergebnisse der Abstimmungen vergleicht, merkt schnell, dass es dem Publikum sehr wohl um die Unterstützung von konkreten Ländern geht. Die symbolische, aufklärerische und durch den kommerziellen Aspekt des Wettbewerbs auch finanzielle Unterstützung kann ohne Zweifel zu einem wichtigen Faktor und Beistand werden, wenn es darum geht, einem Land in der Überbrückung von schwierigen bis katastrophalen Situationen zu helfen. Der symbolische Wert der ersten Platzierung ist hier auch nicht zu unterschätzen. Durch den phänomenalen Erfolg von Ukraine beim diesjährigen ESC kommen Fragen auf, die womöglich nicht zu erwarten wären… zumindest bei bestimmten Segmenten der Bevölkerung. Neulich hat osTraum im Telegram-Kanal eines russischsprachigen Berliner YouTubers die ernstgemeinte Frage ein:er Follower:in gelesen: “Warum tritt Russland dieses Jahr eigentlich nicht auf?”. Tja, weil das Land einen Angriffskrieg führt und folglich mit immer mehr Sanktionen zu rechnen hat.
Schauen wir uns die knapp 20 Jahre Ukraine beim ESC an, so wird es schnell klar, dass Ukraine nicht nur dieses Jahr bei dem Song-Wettbewerb ganz vorne mit dabei war und ist. osTraum hat für euch die 7 ukrainischen ESC-Songs zusammengefasst:
7. Ruslana (Pop/DANCE)
Ukraine war gerade das zweite Mal bei dem ESC dabei und Ruslana Lyschytschko aka Ruslana holte für ihr Land den 1. Platz. Zu dem Zeitpunkt gab es bereits eine Vorahnung, dass ihr Land vor einer Wende steht. Es ist immer noch nicht 100 % bewiesen, doch wer die letzten 18 Jahre die internationalen Operationen russischer Geheimdienste verfolgt hat, wird daran nicht zweifeln, dass 2004 der pro-ukrainische Präsidentenanwärter Wiktor Juschtschenko, dessen Wahlfarbe Orange gewesen ist, im Auftrag des Kremls lebensbedrohlich vergiftet wurde. Er konnte sich jedoch erholen und wurde zum gewählten Präsidenten des Landes. In den Nachfolgejahren baute Russland jedoch ihren wirtschaftlich-politischen Einfluss aus und installierte seinen eigenen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Nach dem Euromaidan 2014 wurde er jedoch entmachtet und ging ins Exil erst nach Belarus und dann nach Russland. Ruslana, die nach ihrem ESC-Erfolg in die Politik ging und zur Abgeordneten der Rada wurde, war eine der Schlüsselpersonen beim Euromaidan. Dank ihrer Bekanntheit und Beliebtheit bei der Bevölkerung konnte sie wesentlich zum Gelingen der Revolution beitragen. Zudem kämpft sie bis heute als Aktivistin gegen Menschenhandel und Sklaverei.
6. Verka SerdJutschka (POP/DISCO/SATIRE/DRAG/BALKAN BEATS)
Der Wahl-Kyjiwer Andrij Danylko aka Verka Serdjutschka ist ukrainischer Sänger, Schauspieler, Moderator, Drehbuchautor und Unternehmer. Im postsowjetischen Raum ist er vor allem unter seinem Künstlernamen als eine Drag-Ikone berühmt geworden. Mit seiner Rolle als Drag-Queen ist es jedoch tricky, da die queerfeindliche Stigmatisierung in postsowjetischen Ländern je nach Region präsent bis dominant ist. So sind Drag-Künstler:innen für das Publikum “einfach Männer in Frauenkleidung” oder es heißt schnell “Künstler dürfen so was auf der Bühne”. Danylko hat seine Karriere in der ersten Hälfte der 1990er Jahre erst als Comedian angefangen und wurde spätestens ab 1995/1996 vor allem zum Sänger, der seine dynamisch-mitreißenden Lieder auf Surzhyk, Ukrainisch, Russisch und Englisch performte. Beim ESC trat er 2007 mit seinem Lied Dancing Lasha Tumbai, in dem noch das Deutsche dazu kam, auf. Vom Publikum in Russland wurde die Phrase “Lasha Tumbai” als Russland-feindliches “Russia Goodbye!” aufgenommen. Danylko bestritt jedoch die Vorwürfe und gab an, die Zeile aus einem Lied von Viktor Tsoi und seiner Band KINO zu haben, wo so was ähnliches, vom Mongolischen übersetzt, “Butter schlagen” geheißen haben muss. Mit dem Lied gewann er den zweiten Platz und den Titel “Miss ESC 2007”.
Während des Krieges 2022 hat Danylko Kyjiw nicht verlassen und versucht, die Zivilgesellschaft in der Hauptstadt zu unterstützen. Alle Angebote russischer Sender und Booking-Agenturen hat er abgelehnt. Die Regierung Russlands hat über ihn und einige weitere ukrainische Künstler:innen einen Einreiseverbot verhängt, worauf Danylko humorvoll antwortete:
“Schade, dass ich jetzt nicht mehr zur Putins Beerdigung darf”
Sein Lied aus dem Jahr 2014 “Alles wird gut” (Всё будет хорошо) bleibt trotzdem in vielen postsowjetischen Ländern und auch außerhalb ein viraler Hit, vor allem bei Hochzeiten, Geburtstags- und Firmenfeiern:
5. Ani Lorak (Pop)
Bereits im nächsten Jahr – 2008 – nahm Karolina Kujek aka Ani Lorak ebenfalls den zweiten Platz beim ESC ein. Ihr Lied Shady Lady wurde vom bulgarisch-russischen Sänger Filipp Kirkorow komponiert und der Text vom armenisch-russichen Lyriker Karen Kavaleryan geschrieben. Nach der Annexion der Krym durch Russland in 2014 hat Ani Lorak nicht nur ihre geschäftlichen, privaten und künstlerischen Beziehungen in Russland fortgesetzt, sondern stellte sich aktiv auf die russische Seite und spielte unter anderem bei Militärkonzerten in Russland. Auch die neue Phase des Krieges 2022 bewegte die Sängerin von ihrem Lebensmittelpunkt nicht weg.
4. Auf die Teilnahme verzichtet (2015)
Im Jahr nach der Besetzung der Krym durch russländische Truppen nahm Ukraine aus Protest am ESC nicht teil.
3. Jamala (Soul/Pop)
2016 sang die tatarisch-ukrainische Künstlerin Jamala beim ESC das Lied “1944” und gewann damit den ersten Platz. Das Lied performte sie auf Krymtatarisch und Englisch. Sie erinnerte damit an die Deportation von bis zu 200.000 Krymtatar:innen durch die sowjetische Armee nach Zentralasien. Unter den Krymtatar:innen gab es während des 2. Weltkrieges die Bestrebungen, sich von der UdSSR zu trennen, was 1944 mit der fatalen Maßnahme bestraft wurde. Die Lyrics sprechen für sich:
When strangers are coming
They come to your house
They kill you all
and say
We’re not guilty
not guiltyWhere is your mind?
Humanity cries
You think you are gods
But everyone dies
Don’t swallow my soul
Our souls
Musikalisch steht das Lied einem orientalischen Klagelied nahe und ist der Ausdruck vom Schmerz eines ganzen Volkes, aus dem Jahr 1944 in die Jahre 2014, 2015 und 2016 projiziert. 2022 ist das Lied leider immer noch aktuell.
2. Go_A (Ethno Trance)
Nach dem wettbewerb-freien Jahr 2020 waren Go_A 2021 auf der Bühne mit dem Lied “Lärm” – “Шум” heißt in den ostslawischen Sprachen nicht nur Lärm, sondern auch das Rauschen von Baumkronen, Weizenfeldern und des Meeres. Bei dem Stück handelt es sich um eine Interpretation des gleichnamigen ukrainischen Volksliedes, das auf das 19. Jahrhundert zurückdatiert wird. Der Keyboarder der Band Taras Schewtschenko ist übrigens Namensvetter des ukrainischen Nationaldichters und Malers aus dem 19. Jahrhundert. Der Go_A-Musiker ist zudem in der ukrainischen Metalszene aktiv. Das Lied “Shum” wurde 2021 zu einem der meistgestreamten Lieder bei Spotify und zählt heute rund 62 Millionen Streams. Beim ESC belegte die Band den fünften Platz.
1. Kalush (Electro Folk/Hip Hop)
In einer Zeit, in der Konzerte fast unmöglich erscheinen, entschied sich die Ukraine, eine Band auszusenden. Kalush nutzten die Bühne lediglich nicht für eine traurige Hymne oder ein Klagelied. Sie schufen eine zugleich epische und dynamische Komposition, die den Optimismus und den ungebrochenen Freiheitswillen ihres Landes repräsentiert. Das Ergebnis war “Stefania”. Gleich nach ihrem Sieg beim ESC veröffentlichte die Band das offizielle Video zu dem Lied. Die Bilder sprechen für sich und es ist ein sehr wichtiges Lied für die Ukraine, denn es zeigt die Frau im Krieg. Die Armee Russlands ist ein rein patriarchales Konstrukt. Putin wendet sich bei seinen Ansprachen an Soldaten und ihre Mütter und Frauen. Frauen sind für den Machthaber Russlands dadurch ausschließlich Bürgerinnen, die Jungen zur Welt bringen, die schließlich zu Männern werden. Damit ist die Aufgabe der Frau erfüllt. Volodymyr Zelenskij spricht dabei meist von Verteidigerinnen und Verteidigern. Er weiß, dass mehr als 15 % seiner Armee Frauen ausmachen. Er weiß, dass Frauen genauso kämpfen. Kalush haben übrigens auch eine Label-Chefin – den Shootingstar des ukrainischen Raps Alyona Alyona.
Von vielen europäischen Staaten erhielten Kalush dabei eine unbegrenzte Unterstützung. Alle Punkte aus Litauen gingen an die Ukraine und die Musiker:innen des Landes produzierten eine Hommage an ihre musikalischen Kolleg:innen:
Auch Lettland blieb nicht untätig:
Die baltische Runde schließen die estnischen Musiker:innen ab:
Und auch die finnischen Megastars der 2010-er The Rasmus produzierten spontan ein Videocover zusammen mit Kalush:
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Titelfoto © Wikimedia
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