Das Mutterland, die Heimat, das Vaterland – diese Schlüsselbegriffe sind für die zeitgenössischen belarusischen Dichter:innen essenziell. Während die ganze Welt im August 2020 die „Revolution der Geduld“ in Belarus mit großer Hoffnung, aber gleichzeitig auch mit Angst, verfolgte, stand die Frage über das Wesen der belarusischen Nation, über Belarus als Heimatland immer häufiger im Raum. Belarus hat ca. 9,4 Millionen Einwohner:innen, außerhalb des Landes leben jedoch nach unterschiedlichen Zählungen bis zu 3,5 Millionen Belarus:innen. Sie sind zwar in der Welt zerstreut, aber gut vernetzt. Der Telegram-Kanal NEXTA, der zu einer der wichtigsten Informationsquellen dieser Revolution wurde, hat es bewiesen. Ob in Berlin, Moskau, Helsinki oder New York – die Belarus:innen organisierten sich über Telegram- und Facebook-Gruppen zu Kundgebungen, um ihren Protest gegen das Lukašenka-Regime zum Ausdruck zu bringen und sich solidarisch mit ihrer Heimat zu zeigen. Doch was ist die Heimat für Belarus:innen?
Für die belarusische Literatur ist die Heimat besonders nach dem Zerfall der UdSSR zu einer hochdiskutierten Frage geworden. Die Autor:innen versuchen nämlich “die belarusische Literatur zu europäisieren, in den gesamteuropäischen Diskurs einzubeziehen und ein auch für ausländische Leser interessantes Niveau zu erreichen“, schrieb 2009 die polnische Wissenschaftlerin Katarzyna Bortnowska. Dieser Prozess ist jedoch sehr komplex und wird nicht zuletzt durch die Grenzen der Heimat bedingt. Was bedeuten diese Grenzen für die belarusischen Autor:innen genau und wie setzten sie sich in ihren Texten mit Belarus als Heimat auseinander sind die Fragen, die nachfolgend behandelt werden. Insbesondere die belarusische Dichtung bietet hier viele spannende Fallbeispiele für eine Analyse, so wird in diesem Artikel ein Blick auf zwei aktuell in deutscher Sprache erschienene Gedichtbände von belarusischen Poetinnen geworfen: „Musik für Tote und Auferstandene“ (2021) von Valzhyna Mort und „Mutantengarten“ (2020) von Volha Hapeyeva.
Die Heimat im Exil
Mort und Hapeyeva sind belarusische Lyrikerinnen, die zurzeit nicht in Belarus leben. Geboren jeweils in den Jahren 1981 und 1982, gehören die beiden einer Generation an, ihre Lebenswege unterscheiden sich jedoch unter anderem durch den Zeitpunkt, zu dem sie ihre Heimat verließen. Mort ging 2006 in die USA und schreibt ihre Gedichte heute nicht nur auf Belarusisch, sondern auch auf Englisch. Hapeyeva befand sich dagegen bis 2019 in Belarus, wo sie als Übersetzerin, Linguistin, Lyrikerin und Autorin tätig war. Sie ging zunächst nur für ein Jahr als Stadtschreiberin nach Graz, entschied sich aber aufgrund der Ereignisse im Sommer 2020 nach Belarus nicht zurückzukehren. Die Sprache ihrer Gedichte ist Belarusisch. Nichtsdestotrotz, haben Mort und Hapeyeva sehr viel gemeinsam – sie sind belarusische Lyrikerinnen im Exil. Fern von ihrem Geburtsland reflektieren sie darüber, woher sie stammen, was ihr Mutterland ist und welche Gefühle sie zu dem Land empfinden.


Volha Hapeyeva (l.) & Valzhyna Mort (r.)
Das Land ohne Meer, das Land der Toten
„Wo stamm ich her?“ – fragt Mort im Gedicht „Versuch in Ahnenforschung“. In dem Text kommt diese Frage wiederholt vor, denn die Suche nach Wurzeln gestaltet sich nicht leicht. Ein Land, aus dem die Autorin stammt, ist ein „kaum bekanntes Land“. Dieses Land wird nicht direkt genannt und bleibt daher namenlos. In den weiteren Strophen und Kapiteln treten neue, biografisch geprägte Details hervor, die mehr Licht auf dieses unbekannte Land werfen. „Versuch in Ahnenforschung“ ist eine Familiengeschichte, die sich aus den Kriegsbriefen, Großmutters Erzählungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit zu einem Puzzle mit vielen weißen Stellen zusammenstellt.
Der erste Schlüssel zur Verortung gibt der Name der belarusischen Hauptstadt Minsk:
Nachkriegs-Minsk, Kasernen –
Das Glück der ersten Wohnung […]
Die Leben der (de-)evakuierten Belarus:innen, die durch die Kriegsereignisse von ihrem Heimatland mit Gewalt entwurzelt waren, werden als Opfergaben für das friedliche Leben der Zeitgenos:innen betrachtet:
Dieses Land wurde getestet an Vaclavs Gesicht.
Jetzt können wir in Frieden leben.
Als Vaclav wird vermutlich Morts Großonkel gemeint, der während des Zweiten Weltkrieges aus Belarus evakuiert wurde. Der zweite Ort, den Mort anspricht, ist ein Dorf, das ebenso wie das Land keinen Namen hat, es ist „bekannt für seine Unbekanntheit“. Das Dorf beschreibt die Lyrikerin durch einen Tümpel und die alte Kirche mit dem Friedhof. Das Mutterland bekommt einen Bezug zum Land im direkten Sinne, damit wird die Erde, der „Gottesacker“ – die Friedhofserde gemeint. Bedeutend für Mort ist hier, was unter der Erde liegt:
Unter mottenzerfressenem Schnee
Hat mein Mutterland gute Knochen.
Diese Knochen der verstorbenen Vorfahren sind der Schlüssel, der dabei hilft, Belarus zu verstehen:
Mein Mutterland rasselt mit den Knochenschlüsseln.
Ein Knochen ist ein Schlüssel zu meinem Mutterland.
Die Toten sind für Mort diejenigen, die ihr Land bevölkern:
IN MEINEM VOLK HABEN NUR
DIE TOTEN MENSCHLICHE GESICHTER.

Mit dieser Analogie verdeutlicht die Lyrikerin, wie stark die Vergangenheit ihr Heimatland prägt. Gegenwart, und demzufolge auch die Zukunft sind hier nicht zu finden. Belarus ist für sie das Land der Toten. Diese Charakterisierung wird durch zwei weitere Vergleiche im zehnten Kapitel des Gedichtes konkretisiert:
An den Grenzen meines Mutterlandes
Knattert nasse Wäsche im Wind wie Schüsse.
Kennen Sie mein Mutterland?
Mein Mutterland ist roher Dotter in einem Fabergé-Ei.
Vom Dotter hat Gold seine Farbe.
Die Wäsche ersetzt hier die Waffe, und das Gold ist in der Tat roher Dotter im Ei. Der erste Vergleich klingt bei Mort nach Ironie, sogar nach Spott über den Versuch ihres Mutterlands, nach außen gefährlich zu wirken. Der Laut der Schüsse an den Grenzen entpuppt sich als das Knistern nasser Wäsche. Die Analogie mit dem Fabergé-Ei, in welchem sich wider der Erwartung roher Dotter statt Gold findet, geht in die gleiche Richtung. Das Eigelb in einem Ei kann aber auch für das noch nicht geborene Lebewesen stehen, das seinen Weg in die Außenwelt noch nicht gefunden hat. Mort vergleicht damit ihr Mutterland mit einem Embryo, der noch nicht reif für das Leben außerhalb des Eis ist.
Von allen Gedichten Hapeyevas aus dem Band „Mutantengarten“ handelt vor allem „es gibt länder“ über die Gefühle der Dichterin zu ihrer Heimat.
es gibt länder
in denen ist meer nur ein wort
dessen bedeutung
man aus dem wörterbuch kennt
Von der allgemeinen, anonymen Bezeichnung „Länder“ geht Hapeyeva dann zu einem konkreten Land über. Sie schreibt: „ich lebe in einem land“, sagt jedoch nicht, welches Land das ist. Dieses Land gehört zu den Ländern, „in denen ist meer nur ein wort“. Aus diesem Satz hört sich Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit heraus. Für die Autorin geht es nicht um Gewässer an sich, denn Flüsse und Seen gibt es in ihrem Land in einer Unmenge. Genau das Meer ist etwas besonders, das ihrem Land fehlt, und das ist nicht zu ändern:
kein einziger weg
führt zum meer
Hiermit wird die erste Charakterisierung des Mutterlands nicht nur durch das Vorhandensein eines Merkmals, sondern durch das Fehlen solchen zum Ausdruck gebracht.
Mithilfe der Vorstellungskraft versucht das lyrische Ich bei Hapeyeva das Meer in sein Land zu holen, indem man*frau eine Muschel ans Ohr hält oder statt Wolken im Himmel sich das Meer vorstellt. In ihrem Heimatland zu sein ist für die Autorin mit der inneren Migration verbunden: Physisch da zu sein, mental sich aber an andere Orte – wo das Meer ist – zu versetzen. Die hoffnungsvollen Momente werden von dem Erwachen in der Realität abgelöst:
ich weiß jetzt
wie man hoffnungslosigkeit definiert
wenn man es nicht betrügen kann
es – das bewußtsein
wenn die wolken am horizont nur wolken sind
und das meer
das meer – irgendwo ist – nur nicht bei uns.
Dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit ist bei Hapeyeva direkt mit ihrem Heimatland verbunden. Dort findet die Autorin nicht, wonach sie sich sehnt. Das Meer wird zum Leitmotiv des Gedichts, worin Assoziationen mit Möwen, Gerüchen, Algen, Salz und Sonne hergestellt werden. Es liegt aber nahe, dass das Fehlen der Grenzen so wichtig am Meer ist. Denn das Meer hat im Gegenteil zu Flüssen und Seen und insbesondere dem Festland keine festen Grenzen.

Die Gedichte der belarusischen Poetinnen Mort und Hapeyeva geben zwar keine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Heimatbegriff, dafür aber unterschiedliche Impulse zum Verständnis ihres Landes. Während Mort ihr Land durch symbolische Knochen, durch die Geschichte der Toten definiert, geht Hapeyeva mit dem Motiv des fehlenden Meeres in ihrem Land in eine andere Richtung. Trotz dieser Unterschiede haben die beiden Autorinnen eine Gemeinsamkeit: Sie sehen ihre Heimat als ein Land ohne Namen. Dieses Land hat keine stark ausgeprägten Merkmale, besonders Mort betont die Unbekanntheit ihres Mutterlandes. Die Perspektiven der beiden Poetinnen auf ihre Heimat unterscheiden sich auch von dem Standpunkt, dass Mort ihre Gedichte aus einer größeren Distanz zu Belarus schrieb, während Hapeyeva sich noch in ihrem Mutterland bzw. erstmal nur vorübergehend im Ausland befand. Die Strophen der Gedichte „Versuch in Ahnenforschung“ und „es gibt Länder“ sind von Traurigkeit geprägt, die das unbekannte und namenlose Mutterland hervorruft. Bei Hapeyeva grenzt dieses Gefühl an die Hoffnungslosigkeit, und Mort findet letztendlich keine Antwort auf die Frage „Wo stamm ich her?“.
Die Auseinandersetzung mit Belarus als Heimatland bei den zwei bedeutenden Stimmen der belarusischen Poesie der Gegenwart – Valzhyna Mort und Volha Hapeyeva – ist eine essenzielle Grundlage, die zum Nachdenken über Belarus:innen als Nation, über Belarus als Mutterland, Herkunftsland und Wohnort anregt.
Volha Hapeyeva: Mutantengarten. Ottensheim: Edition Thanhäuser 2020.
Valzhyna Mort: Musik für Tote und Auferstandene. Berlin: Suhrkamp 2021.
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