Text: Aleksej Tikhonov und Maria Gerasimova
Die 23. Ausgabe des goEast Festivals brachte das osTraum-Team in den letzten April-Tagen nach Wiesbaden. Der berühmte Kurort mit Thermalquellen, ist die hessische Landeshauptstadt seit 2001 der Veranstaltungsort für das Filmfestival goEast. Jährlich reisen hunderte Kreativschaffende aus den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie aus dem Kaukasus und Zentralasien nach Wiesbaden, um ihre Filme dem deutschen und internationalen Publikum zu präsentieren sowie an den Vorträgen, Fachdiskussionen und begleitenden Ausstellungen teilzunehmen. Das Hauptthema des Festivals war dieses Jahr, wie wir bereits in der Vorschau zu goEast berichteten, die Dekolonisierung des post-sowjetischen Kinos. Auch wenn sich das goEast-Team in den vergangenen Jahren bereits stark dafür einsetzte, den bisher weniger präsenten und marginalisierten Stimmen aus den erwähnten Regionen mehr Raum zu geben, erscheint das Thema „Decolonizing“ the (Post-)Soviet Screen“ insbesondere 2023 so aktuell wie nie zuvor. In unserem Rückblick auf diesjährige goEast Ausgabe erfahrt ihr über diverse Schwerpunkte des Festivals und unsere Highlights, und zwar die einleuchtenden Diskussionen während des Symposiums, den Einblick in das Wettbewerbsprogramm mit drei Filmen aus Kasachstan, Lettland und Serbien, Kurzfilme aus Zentralasien und die Ausstellung „Illustrators_Native“.





Symposium
Im Rahmen des Symposiums hat die Panel-Discussion „Ukrainian Film Industry – the past, the present and the uncertain future“ wertvolle Einblicke in die ukrainische Filmwelt gegeben. Ivan Kozlenko (ehem. Leiter des Dovzhenko Zentrums) berichtete über die Geschichte des unabhängigen ukrainischen Films. In den 1990er Jahren herrschte in der Lost Generation des ukrainischen Films nicht nur ein extrem hohes Defizit an Finanzierung für Produktionen, sondern auch schlicht ein Defizit an Mitteln für den Lebensunterhalt der Filmemacher*innen. Trotzdem wurden in den 1990-er und 2000-er Jahren viele Filme gedreht, die international Beachtung fanden. 2014, nach dem Beginn des russländischen Krieges gegen die Ukraine, wurden in der Ukraine Gesetze erlassen, die den Verkauf und die öffentliche Vorführung von in Russland produzierten Kulturgütern verbieten. Dies führte zu einem Boom für die ukrainische Unterhaltungsindustrie. Viele kommerzielle Filme und Serien kamen in die Kinos und ins Fernsehprogramm. Der Präsident der Ukraine, Volodymyr Selenskyj, der selbst Schauspieler und Produzent gewesen ist, ließ kommerzielle Film- und TV-Produktionen durch staatliche Programme fördern. Dagegen werden Indie-Filme ungern gefördert, weil sich die Investitionen nicht rechnen.
Die Situation in der Ukraine hat sich in den vergangenen anderthalb Jahren verschärft. Etwa 200 von 600 Kinos wurden durch den Krieg zerstört oder befinden sich auf dem von Russland besetzten Territorium. Für die Kyjiwer Filmkritikerin und Journalistin Daria Badior war es bei der Diskussion wichtig, dass es dem Publikum und den Festival-Vertreter*innen klar wird: die Zukunft der ukrainischen Filmindustrie ist ungewiss. Wenn überhaupt, werden in den kommenden Jahren eher Dokumentarfilme produziert, die den Krieg gegen die Ukraine zeigen. Derzeit ist aber die Welle des neuen ukrainischen Films vorbei. Spielfilme, wie Stop Zemlja, sind die Highlights dieser neuen Welle. Die nächste Welle wird kommen, sobald der Krieg vorbei ist. Ob es wieder eine Lost Generation sein wird oder sich die ukrainische Filmszene neu erfindet, bleibt vorerst aus offensichtlichen Gründen offen.

Wenn es um Zentralasien geht, das ihr eigenes Panel hatte, so hat auch die tadschikische Filmindustrie in den 1990er Jahren während des Bürgerkriegs stark gelitten. Bis heute befindet sie sich in einer schwierigen Lage. Mit sehr wenigen großen Leinwänden im ganzen Land und einer Zielgruppe von etwa 10 Millionen Menschen ist der Kinomarkt extrem begrenzt. Für die Jungen werden aber Kinos und die TV-Sender, die von Russland dominiert werden, immer irrelevanter. In Tadschikistan, aber auch in Usbekistan, läuft das kulturelle Leben in sozialen Medien, wie Instagram, TikTok und YouTube, ab. In Kasachstan gibt es sogar erfolgreiche Produktionen wie die Serie Sheker, die von Anfang an auf einem YouTube-Kanal veröffentlicht wurde. Alle drei Länder verfügen zwar über eigene Filmindustrien, die aber immer noch eng mit der Moskauer Filminstitut VGIK verbunden sind. Ein Abschluss an dieser Bildungseinrichtung gilt oft als ein notwendiges “Eintrittsticket” in die sehr verschlossene und elitäre Filmwelt der Länder.
Die Videokunstszene in Usbekistan hingegen existiert parallel zu dem Moskauer Monopol. Die Tashkent Film School soll zeigen, dass es auch ohne die alte sowjetische Schule möglich ist, eigene Werke zu schaffen und ohne VGIK zu arbeiten. Bisher war es logistisch oft einfacher, nach Russland zu gehen und dort zu studieren, auch wenn das Leben als Migrant*in in Russland oft schwer ist und wenig bis keinen Raum für Bildung lässt. Die Einreise nach Russland ist aber bürokratisch einfacher und das Leben dort günstiger als z.B. an den großen Filmschulen in Europa oder insbesondere in Nordamerika. In Kirgistan ist die Lage ähnlich. Bis in die 2000-er Jahre war VGIK die einzige Bildungsmöglichkeit für junge Kreativschaffende, die in der Filmindustrie arbeiten wollen. Allmählich emanzipiert sich zwar der kirgisische Film von Russland und schafft Filme wie die kasachisch-kirgisische Koproduktion Ayka, es bleibt jedoch die Frage, ob die neuen kirgisischen Filme tatsächlich für Kirgistan gedreht werden oder für ein Publikum in Russland und anderen Ländern. Denn in Kirgistan wird heute mit Filmen oft leichte Unterhaltung verbunden. Harte Realität, wie in Ayka, kommt nicht sehr gut an.

Die zentralasiatischen Länder versuchen, eine neue Sicht auf ihre Länder zu erschaffen und ihre Kulturen jenseits von imperialistischen Stereotypen zu präsentieren. Neben Russland, wollen aber auch die Türkei und China ihren Einfluss geltend machen, z.B. werden auch beim Korkut Ata Turkic World Film Festival in Istanbul Filme aus Zentralasien gezeigt. Dennoch hat Russland die Kinowelt fast vollständig aufgekauft und Produktionen aus anderen Ländern werden meistens mit russischer Synchronisation gezeigt. Die zentralasiatische Filmindustrie steht also vor der Herausforderung, sich gegenüber der Dominanz Russlands und dem Streben anderer Länder nach Einfluss behaupten zu müssen und dabei die eigene Identität zu definieren und zu repräsentieren.
Einblicke in das Wettbewerbsprogramm
Aus dem facettenreichen Wettbewerbsprogramm fiel unsere Wahl auf drei Filme, die nicht unterschiedlicher sein könnten – der kasachische Western „Goliath“ von Adilkhan Yerzhanov, der serbische Dokumentarfilm über die Bergbaustadt Majdanpek „Flotacija“ von Alesandra Tatić und Eluned Zoë Aiano sowie der lettische Coming-of-Age-Film über Riga 1991 „January“ von Viesturs Kairišs. Die Vielfalt an Themen und Ländern, die auf dem goEast 2023 vorgestellt wurden, hat die Auswahl nicht leicht gemacht, dennoch wollen wir die drei erwähnten Filme an dieser Stelle als exemplarischen Querschnitt des Programms etwas ausführlicher vorstellen.
„Goliath“ (Kasachstan, 2022)
Karatas ist das in der Zeit verlorene Dorf in der kasachischen Steppe, das zum Handlungsort von „Goliath“ wird. Die Dorfgemeinschaft, darunter Arzu mit seiner Frau Karina und der kleinen Tochter, leben in Angst vor dem grausamen Anführer der lokalen Bande Poschajew. Als Karina Poschajew bei der Polizei anzeigt, wird sie umgebracht. Die Gewalttäter bleiben unbestraft. Überraschenderweise nimmt Poschajew Arzu in seine Bande auf – ein Angebot, das nicht abgeschlagen werden darf. Arzu, ein stotternder und eingeschüchterter Mann, versucht trotz allem sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und sich an dem Mörder seiner Frau zu rächen. Adilkhan Yerzhanovs Film handelt von einer Welt, wo der Stärkere entscheidet. Die Gesetze werden hier nicht geschrieben, sondern mündlich ausgesprochen. Geschickt verortet „Goliath“ Western als Filmgenre in Kasachstan und erzählt den Goliath-Mythos neu. In Kasachstan durfte der Film nur fünf Tage lang gezeigt werden. Was hat der Regierung wohl an dem Film nicht gefallen?

„Flotacija“ (Serbien, 2023)
Walddrachen, ein Kupferwerk, kuriose Persönlichkeiten und chinesische Investoren. „Flotacija“ handelt von einem ostserbischen Ort in Majdanpenk. Das Leben der meisten Stadteinwohner*innen ist mit dem Kupferwerk verbunden, das ihnen Arbeit gab. Nachdem die chinesischen Investoren es gekauft haben, bleiben viele Fragen in der Luft hängen. Wie geht das Leben weiter? Wofür haben wir gearbeitet und was gehört uns noch in der Stadt? Die Protagonist*innen des Langfilmdebüts von Alesandra Tatić und Eluned Zoë Aiano sind eigenartig und heimatverliebt, auch wenn nicht alles in der Stadt zu ihrer Zufriedenheit geschieht. Die beiden Regisseurinnen begleiten Desa und ihren Bruder Dragan (einen der letzten Drachenfänger) in ihrem Alltag und zeigen dabei die schlimmen Folgen der von Menschen verursachten Umweltkatastrophe.

„January“ (Lettland, 2022)
Jazis will Filmemacher werden. Gefangen in seinen Träumen, zwischen Tarkowskij und Bergmann, wird er mit der Realität konfrontiert – Riga im Jahre 1991. Als Jazis als wehrdiensttauglich eingestuft wird, fahren bereits die sowjetischen Panzer durch die Straßen des Nachbarlandes Litauen. Der Kollaps der Sowjetunion ist nah – ein Thema, an dem sich Jazis als aufstrebender Dokumentarfilmemacher versucht. Liebe, Zweifel, Trauer, Courage – „January“ von Viesturs Kairišs ist voll mit Gefühlen, die den Prozess des Erwachsenwerdens unmittelbar begleiten. Jazis (er)findet sich, folgt seinen Träumen und trifft dabei auf seine große Jugendliebe. Durch die Einbettung der Archivaufnahmen und der unterschiedlichen analogen Bildformate versetzt Viesturs Kairišs die Zuschauer*innen nahtlos in die Zeit des Umbruchs Anfang der 1990er, was die Coming-of-Age Geschichte über den Protagonisten Jazis besonders ergreifend macht.

Ausstellung und Kurzfilme
Das DAVRA Collective ist ein Zusammenschluss von Video-Künstlerinnen aus Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan, die in ihren Werken die Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Kulturen untersuchen. Ihre Kurzfilme bewegen sich zwischen Film, animierten Graphic Novels und Videokunst und setzen sich mit Themen wie Dekolonialisierung, Gender und zwischenmenschliche Kommunikation auseinander. Aïda Adilbek erforscht in ihrem Werk “Send me your words” (2020) die Parallelen zwischen folkloristisch angehauchten Dekorelementen von Plattenbauten und der non-verbalen Kommunikation via Heizung in Kasachstan. Alla Rumyantseva hingegen erzählt in “I met a girl” (2014) die Geschichte des sowjetischen Feminismus abseits russischer Großstädte anhand von Erzählungen und Bildern aus dem Leben von tadschikischen Frauen. Sie zerstört damit den Mythos von sowjetischer Gleichstellung, denn die UdSSR war ein patriarchales Land und das Leben tadschikischer Frauen hat sich nur bedingt verbessert, auch heute im 21. Jahrhundert.
Die zentralasiatische Kurzfilmauswahl von GoEast enthält viele bahnbrechende Werke, darunter das Pionierwerk “The Burden of Virginity” (2008) von der Filmemacherin und ersten Kamerafrau Usbekistans, Umida Akhmedova. Der Film kritisiert das vom biologischen Unwissen geprägte gesellschaftliche Bild der Jungfräulichkeit und zeigt die tragischen Konsequenzen dieser Vorstellung.

Weitere Filme im Programm waren All the Dreams We Dream (2020) von Asel Kadyrkhanova aus Kasachstan, Hard to Digest (2021) von Nazira Karimi aus Tadschikistan, Escape from Freedom (2010) vom Artkollektiv Strekooza aus Kirgistan, Namad (2022) von Madina Saidshoeva aus Tadschikistan und Autonomy (2022) von Zumrad Mirzalieva aus Usbekistan. Alle acht Videoproduktionen haben einen starken eigenen Charakter und genau auf dieser Weise zeigen sie, dass der freie Kreativprozess – ohne Zensur, ohne staatlicher Richtlinien, ohne russländischer Dominanz – einzigartige Filme und Kunstwerke entstehen lässt. Vielleicht könnten sie eines Tages nicht „nur“ auf der Leinwand, sondern auch als Installationen in Endlosschleife in einem Museum für moderne Kunst gezeigt werden und die Besucher*innen zum Nachdenken anregen, in Kasachstan, Tadschikistan, Deutschland oder anderswo.



Von links nach rechts: © All the Dreams We Dream, Asel Kadyrkhanova (2020), Namad, Madina Saidshoeva (2022), Send Me Your Word, Aïda Adilbek (2020).
Das GoEast Festival nutzte bereits den Ansatz, freien Kreativprozessen Raum zu geben und präsentierte Illustrationen und andere Kunstwerke bei der Ausstellung illustrators_native. Das gleichnamige Projekt wurde im Januar 2023 gegründet, um eine Gemeinschaft für verschiedene Illustratorinnen aus indigenen Bevölkerungsgruppen Russlands zu schaffen. Innerhalb der illustrators_native Community fördern Seseg Jigjitova und Rinchina Azheeva die Werke von Illustrator*innen, die sich der Darstellung und dem Umdenken einheimischer Kulturen und Erzählungen widmen. ‘Back to the roots’ ist hier programmatisch, denn die russische Kultur ist nur eine von vielen Kulturen in der Russischen Föderation. Nach jahrhundertelanger Unterdrückung und Russifizierung zeigen junge Illustrator*innen durch ihre Kunst, wie sie ihre Kultur zurückgewinnen.
Fazit
Die 23. Ausgabe des goEast Festivals brachte das osTraum-Team nach Wiesbaden, eine Stadt, die übrigens auch sonst ein empfehlenswertes Reiseziel für ein langes und entspanntes Wochenende ist. An dieser Stelle muss der Veranstaltungsort tatsächlich gelobt werden, denn es kommt leider immer noch zu selten vor, dass Veranstaltungen mit dem osTraum-Bezug außerhalb von Berlin stattfinden. Das Hauptthema des Festivals war dieses Jahr die Dekolonisierung des post-sowjetischen Kinos und die Emanzipation von der Dominanz russischer Welt. Diverse Schwerpunkte (neben den eigentlichen Filmen) war das Symposium und die Ausstellung „Illustrators_Native“, die inhaltlich zu den absoluten Highlights gehören. Sowohl Kenner*innen der Regionen als auch Neulinge in dem Themenspektrum sind hier auf ihre Kosten gekommen. Während des Symposiums erhielt das Publikum wertvolle Insides aus der ukrainischen, usbekischen, kasachischen und weiteren Filmindustrien, die sich in einer schwierigen Lage befinden. Das goEast Festival 2023 bot erneut eine Plattform, um Stimmen aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie aus dem Kaukasus und Zentralasien mehr Raum zu geben und die kreative Vielfalt dieser Regionen zu feiern. Wir hoffen, dass zukünftige Ausgaben des Festivals die Kontinuität des Dialogs und des interkulturellen Austauschs fördern werden und hoffen auf ein Wiedersehen mit neuen Filmkunstwerken.
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