Belarus beim goEast – Der lange Weg zur Befreiung vom russischen Imperialismus

Text: Isabella Hoyer

Nach den gefälschten Präsidentschaftswahlen in Belarus 2020 reichte die Aufmerksamkeit deutschsprachiger Medien für Belarus nur für eine kurze Zeit. Dann geriet das Land wieder in Vergessenheit. Wenn heute die Rede von Belarus ist, so meistens nur in Zusammenhang mit Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine. Einen tieferen Einblick in das Geschehen im Land zu geben, das versucht das unabhängige belarusische Kino, das in der kurzen Zeit der Freiheit, nach dem Ende der Sowjetunion und vor der Machtübernahme durch Lukaschenka entstand. Das diesjährige GoEast Filmfestival, das unter dem Motto „Decolonizing the (Post-)Soviet Screen“ stand, brachte gleich drei belarusische Filme auf die Leinwand.

Motherland (2022): Sterben fürs Mutterland

2020 wurde durch erschreckende Bilder für die ganze Welt sichtbar, mit welcher Brutalität das Lukaschenka-Regime gegen friedliche Demonstrierende vorging. In diesen Aufnahmen blieb jedoch verborgen, dass das System auch nach innen mit der genau gleichen Gewalt agiert. Der Dokumentarfilm „Motherland“ (2022) von Alexander Mihalkovich und Hanna Badziaka, der im Wettbewerb mit dem FIPRESCI-Preis in der Kategorie Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde, beschäftigt sich mit der sogenannten „Dedovshchina“. Einer noch aus der Sowjetzeit entstammenden „Tradition“ im Militärdienst, bei der junge Wehrpflichtige durch Dienstältere systematisch schikaniert und misshandelt werden, um so aus Jungs „richtige Männer“ zu machen. Der Film begleitet Sviatlana, die der offiziellen Version, ihr Sohn habe während des Wehrdiensts Suizid begangen, nicht glaubt. Sie begibt sich auf die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Sviatlana besucht Friedhöfe, trifft Familien anderer Opfer und nimmt es mit den gerichtlichen Instanzen auf. Dabei macht der Film von Beginn an klar, dass es ein aussichtsloser Kampf ist und die “Dedovshchina” immer weiter junge Wehrpflichtige verschlingen wird. Neben Sviatlana zeigt der Film auch drei junge Männer, die kurz vor der Einberufung stehen, aber nicht wahrhaben wollen, was auf sie zukommen wird und sich an der Hoffnung festhalten, sie würden von all dem verschont bleiben.

„Mysterium Occupation“ (2004): (K)eine Heldengeschichte

Mit dem Thema von Gewalt und Machtmissbrauch setzt sich auch der Film „Mysterium Occupation“ (2004) von Andrey Kudzinenka auseinander. Es geht darin um die Aufarbeitung eines historisch heiklen Themas: dem sowjetischen Partisanenmythos. Der Partisan, der im sowjetischen Kino stets als Held überhöht, als mutiger Kämpfer und selbstloser Verteidiger dargestellt wurde, der sein eigenes Leben lieber opfert, statt die Heimat zu verraten. Doch genau dieses geschönte Bild vom Krieg und seinen vermeintlichen Helden demontiert und entlarvt „Mysterium Occupation“. In fast schon grotesken Szenen werden unmoralische Partisanen, die Dörfer plündern und deren Bewohner erpressen, gezeigt. Sie besaufen sich und verstoßen gegen alle gesellschaftlichen Sitten und Normen. Aber sie sind es manchmal auch Leid weiterzukämpfen oder fürchten sich vor dem Krieg. Erzählt wird auch von einer Dorfbewohnerin, die einen verletzten deutschen Soldaten gesund pflegt, weil sie in dem verwundeten feindlichen Soldaten letztendlich auch nur einen Menschen sieht und es aufrichtig und menschlich wäre, diesem zu helfen. Trotz des Interpretationsspielraums, den der Film an vielen Stellen lässt, bleibt er ein Affront auf das Bild des sowjetischen Partisanenmythos und kommt in Belarus deshalb nicht in den Verleih.

„Orange Vests“ (1993): Der Mythos vom sowjetischen Feminismus

Auch der experimentelle Dokumentarfilm „Orange Vests“ (1993) von Yury Khashchevatsky hat sich zur Aufgabe gemacht, die Realität hinter der sowjetischen Ideologie zu zeigen. Die beiden Drehbuchautorinnen Ella Milova und Irina Pismennaya treffen ein feministisches Kollektiv in Berlin und stellen fest, dass sich ihre eigene Idee vom Feminismus fundamental von der in Westeuropa unterscheidet. Mitten im Zerfallsprozess der Sowjetunion reisen sie durch Belarus, Russland und Tadschikistan und dokumentieren den beschwerlichen Alltag von Frauen. Dabei scheint nichts so zu sein, wie es die ideologischen Losungen über Gleichberechtigung in der Sowjetunion versprechen. Stattdessen treffen sie überall auf prekäre Arbeitsbedingungen – egal ob in Fabriken oder auf Baumwollplantagen. Hinzukommen gesundheitliche Probleme, eine hohe Sterblichkeitsrate von Kindern durch Schwerstarbeit und die Umweltverschmutzung – in Belarus noch einmal verstärkt von der Tschernobyl-Katastrophe, die erst wenige Jahre zurückliegt. Der Film ist dabei nicht nur über Frauen, er spricht auch mit ihnen und lässt alle – von der einfachen Fabrikarbeiterin bis zur Parteifunktionärin – zu Wort kommen. Dabei gehen die beiden Drehbuchautorinnen auch der Frage nach, welche Vorstellungen die Frauen davon haben, wie eine bessere Zukunft aussehen könnte. Auch für die noch sowjetische Republik Belarus.

Der koloniale Einfluss der Sowjetunion und Russlands

So unterschiedlich die drei Filme im zeitlichen Kontext und ihrer Themenauswahl sind, so haben sie dennoch eine Gemeinsamkeit: sie zeigen, wie sehr Belarus noch vom sowjetischen Erbe und vom russischen Imperialismus vereinnahmt ist. In allen Bereichen der Gesellschaft und im staatlichen System finden sich die Spuren seiner Repressionen, seiner Gewalt und seiner Unterdrückung wieder. Belarus hat noch einen langen und schwierigen Weg vor sich, um sich vom kolonialen Einfluss der Sowjetunion und Russlands zu befreien.


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