Anarchie und System: „Platz der Befreiung“ von Andrej Blatnik

Andrej Blatnik gilt als einer der prominentesten Autor:innen der zeitgenössischen slowenischen Literatur. Neben seiner Tätigkeit als Autor ist er zudem Übersetzer und Hochschuldozent. Nun ist sein bereits 2021 veröffentlichter Roman „Platz der Befreiung“ (original: Trg osvobodive) im Folio Verlag in deutscher Übersetzung von Klaus Detlef Olof erschienen. Der Platz der Befreiung. Der Platz der Revolution. Ein Platz mit vielen Namen, ein Ort fortschreitender Veränderung, ein Ort im Wandel der Zeit, welcher die wechselvolle Geschichte der slowenischen Hauptstadt Ljubljana beschreibt. 

Der Platz wartete auf Neuzugänge, auf neue Machthaber. Auf ihm wechselten sich österreichische, italienische und tschechische Architekten ab.

Der Platz gilt als Sinnbild für Fremdbestimmung und gleichzeitig ist es der Ort an dem zwei Individuen aufeinandertreffen, ein versehentlicher Tritt auf die blauen Wildlederschuhe (ein individuelles Symbol für Individualität und den Glauben an die persönliche Freiheit) während einer politischen Demonstration als Debüt, als Zusammenführung zweier junger Seelen, die sich nach Selbstbestimmung und -verwirklichung sehnen. 

In Blatniks „Platz der Befreiung“ verfolgt man zwei junge Menschen bei ihrer Suche nach Zugehörigkeit während der Transformation Sloweniens von einem Teil des sozialistischen Jugoslawiens hin zu einem freien, kapitalistischen und souveränen Staat. Blatnik fängt in aneinandergereihten Momenten des Lebens des Protagonisten ein Lebensgefühl ein, bei welchem die persönliche Erfahrung von den politischen Rahmenbedingungen bedingt ist. Diese Relation beider Sphären, welche ineinandergreifen und unmittelbar zusammenhängen, durchzieht den gesamten Roman. 

Privates ist politisch. Politisches ist privat.

Er (der namenlose Protagonist) entstammt einer Familie aus einfachen Verhältnissen, sie aus einer wohlbetuchten Familie. Er lebt Konformität, sie die Rebellion. Großen Einfluss auf den männlichen Protagonisten hat sein Vater, welcher versucht in ihm einen Geist für den Opportunismus zu nähren, der sein Handeln bestimmen soll: Zugehörigkeiten zu denen schaffen, die auf der richtigen, einflussreicheren Seite stehen, um damit selbst auf dieser Seite zu stehen. Auch der Vater der weiblichen Protagonistin hat Einfluss auf ihren Geist: Er fungiert als Anti-Vorbild: sein Opportunismus, immer den richtigen Riecher zu haben, um materiellen Wohlstand zu etablieren und zu vermehren, wirkt auf sie anwidernd.

Nie gelingt es den beiden, mangels direkter, unverblümter Kommunikation ein stabiles, definiertes Beziehungskonstrukt zu etablieren, ebensowenig wie es anfangs Slowenien gelingt, sich als ein stabiles und klares Staatskonstrukt zu etablieren. Sowohl der Status der Protagonist:innen, als auch der Status Sloweniens schweben in Unklarheit über den Leser:innen. 

Die Relation zwischen den beiden Protagonist:innen verflüssigt sich, die Leser:innen verfolgen ihn bei seinem Versuch, im neuen kapitalistischen System klarzukommen, während sie die Welt umreist. In zufälligen Begegnungen treffen beide im Laufe des Romans regelmäßig aufeinander, kommunizieren ihre Ansichten bezüglich des Lebens, wobei sich immer wieder eine emotionale Verbundenheit offenbart, aber dennoch in getrennten Lebensführungen resultiert: Sie als reisende, yogapraktizierende und sexuell erfüllte Frau in Indien, er als Werbeschreiber für eine Marketingagentur. Sie als Individualistin, er als Konformist (auf dienstlicher Ebene). Seine finanzielle Situation zwingt ihn, sich dem System zu untergeben, während sein Charakter sich nach Individualität sehnt. 

„Platz der Befreiung“ thematisiert das Loslösen von altbekannten Strukturen, eine individuelle und gesellschaftliche Befreiung, nie euphorisch und immer im Bewusstsein der Vergänglichkeit. Blatnik verfasst eine Hymne auf eine Generation, deren individuelle Unabhängigkeitsbemühung mit der Unabhängigkeitserlangung Sloweniens zusammenfallen; skizziert dennoch ein Konstante: eine Gesellschaftsdynamik, in welcher Opportunismus und Konformismus als Triebkräfte der Etablierung einer stabilen Existenz gelten, unabhängig von den politischen Rahmenbedingungen. Es ist kein Sozialismus-Kapitalismus-Vergleich, sondern eine Anklage gegen die oppressiven Mechanismen von Systemen im Allgemeinen. Es könnte als ein anarchistisches und gleichzeitig als ein anti-anarchistisches philosophisches Manifest verstanden werden. Das Sujet nährt ein Gefühl der Beklemmung im Geiste und regt Gedanken darüber an, welchen Platz wir im oder außerhalb des Systems annehmen. Wenn es eine Befreiung geben kann, wovon befreien wir uns dann? „Platz der Befreiung“ von Andrej Blatnik kann darauf Antworten geben.


Andrej Blatnik

Platz der Befreiung

Folio Verlag 2023


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Abbildungen: Buchcover und -umschlag (Folio Verlag)

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