Der Dokumentarfilm MANIFESTO des anonymen Kollektivs Angie Vinchito hinterlässt Eindruck. Es ist ein Mosaik, bestehend aus realen YouTube- und TikTok-Clips, aufgenommen von russischen Schüler*innen. Ausdrucksstark, schockierend und bildgewaltig wird das Porträt einer Jugend in Russland gezeichnet, welche von Gewalterfahrungen und Anleitungen zur Unterwerfung dominiert wird.
Das Wort Manifest beschreibt die wesentlichen Richtlinien und konkrete Positionen. Auch der Film MANIFESTO versucht die wesentlichen Richtlinien und konkrete Positionen vieler russischer Schüler*innen zu umfassen. Zusammengestellt aus Found Footage-Material, visualisiert der Film das alltägliche Leben einer Vielzahl von russischen Kindern und Teenagern im Alter von ca. 8 bis 16 Jahren.
Zunächst wird Bildmaterial aneinandergereiht: Evoziert wird eine Vlog-Atmosphäre. So sieht man die Schüler*innen beim Aufstehen, Fertigmachen und Ankleiden: verschlafen, müde, aber auch aufgeregt und euphorisch. Jede Szene steht für sich, doch die Überschneidungen und Häufungen bestimmter Sentiments erzeugt eine Allgemeingültigkeit. Es herrscht ein Unbehagen. Gefolgt werden die Sequenzen von der Dokumentation der Schulwege. Verschneite Landschaften, Plattenbauten und verrostete Schulbusse. Aber auch pulsierende Klänge von Sirenen, Luftalarm und der verzweifelten Suche nach Bunkern dominieren das Geschehen. Keine Erklärungen seitens der Filmmacher*innen, keine anleitende Narration, stattdessen starke Stimulanz und Eindrücke des Schreckens.
Die Schule als sicherer Hafen nach dem Schulweg: Pädagogik und Gemeinschaft. Angie Vinchito negieren auch dieses Bild: Die Omnipräsenz von Gewalt und Unterdrückung wird in den schulischen Sphären besonders eklatant: Brutale Videos von Schulschießereien, Videos von physischer und psychischer Gewalt, Gewalt seitens Lehrer*innen und der Vermittlung fragwürdiger Werte (bedingungslose Willigkeit von Frauen, dem Mann für Sex zur Verfügung zu stehen) porträtieren den Schulalltag in Russland.
Durch die Überlappung und Häufung dieses Materials, aus welchem der Film gänzlich besteht, entsteht ein dramatisches Porträt einer Gesellschaft, in welcher Kinder Gewalt erleben und eine Anleitung zur absoluten Unterwürfigkeit und absoluten Gewalt gleichzeitig vermittelt bekommen. Der Film kann als Visualisierung des immateriellen Manifests verstanden werden, ein schockierender Film, welcher begreifen lässt, dass Gesellschaften bereits durch Erziehung geformt und Werte vermittelt werden.
MANIFESTO ist ein Manifest sozialer Rahmenbedingungen für eine Jugend in Putins Russland der 2020er Jahre.
Gleichzeitig sollte im Bewusstsein bleiben, dass dieser Dokumentarfilm ein plakatives Porträt zeichnet und kein Panorama darstellt. Es gibt keine Kontextualisierung, keine Leitung der Narration, der Film reiht lose, aber teils bearbeitete Sequenzen aneinander und vermittelt ein schockierendes Bild vom Zustand und den Grundwerten einer Gesellschaft, die von Ausnahmesituationen lebt. Balsamierende Lichtblicke sind die Momente des Widerstands der Schüler*innen. Der Bestrafung trotzend stehen sie ein, für sich selbst und für ihre Werte. Einige wenige zeigen Resistenz gegen die bleischwere und erdrückende Realität in Putins Russland der 2020er Jahre.
Herzlichen Dank an das GoEast Filmfestival 2023 in Wiesbaden für die Deutschlandaufführungen des Films.
osTraum ist werbe- & kostenfrei für alle!
Damit es so bleibt, unterstütze uns mit nur einem Kaffee auf >>>Patreon<<<
osTraum auf Facebook
osTraum auf Instagram
osTraum auf Telegram