Punk ist nicht gleich Punk. Es geht nicht immer um bunt gefärbte Haare, verstimmte E-Gitarren und Unmengen an Bier. Die Agenda und die Taten entscheiden – durch sie wird Punk zu einer Gegenkultur und nicht zu einer popkulturellen Erscheinung. Es geht ja nicht allein um den Sound und das Äußerliche. Im heutigen diktatorischen Russland hat Punk viele Facetten – Aktionskunst ist Punk, Dichtung und Poetry Slams sind Punk, Literatur ist Punk und Rap kann auch eben Punk sein. Darum geht es in dem Buch von Norma Schneider. Es geht aber auch darum, wie diese zahlreichen Ausprägungen von Punk gegen das System arbeiten. Das System heißt dabei Putin. Um die Diversität des Gemüts vom russischen Punk nachvollziehen zu können, müssen wir aber erst ein paar Schritte zurück in die Geschichte gehen.
Der Punk in der UdSSR
Die Subkultur Punk schaffte es trotz des Eisernen Vorhangs, trotz der Zensur, trotz aller sozialistischen Jugendorganisationen bereits in der zweiten Hälfte der 1970-er Jahre in die UdSSR. Im sowjetischen Russland gehörten Avtomatičeskie Udovletvoriteli (ru.: Автоматические удовлетворители; de.: Automatische Befriediger) (1979-1998) und Graždanskaja Oborona (GrOb) (ru.: Гражданская оборона; de.: Bürgerwehr) (1984-2008) zu den Pionieren des Genres. Bereits an diesem Punkt beginnt auch die Geschichte einer Bewegung und ihrer verschiedenen Ausprägungen, die tatsächlich eher als Gegenkultur verstanden werden können und weniger als Punk. Das Gründungsmitglied von GrOb Egor Letov ist für russischen Punk das, was Sid Vicious für den britischen Punk ist. Letov lebte jedoch deutlich länger und gründete nach dem Zerfall der Sowjetunion unter anderem mit Eduard Limonov und Slava Mogutin die Nationalbolschewistische Partei mit – ein Projekt zwischen postironischer Aktionskunst und tatsächlicher Politik. Später driftete die Partei nach Rechtsaußen ab und nahm sogar imperialistisch-kolonisatorische Züge an. Diese Geschehnisse sagen lediglich nicht viel über den Punk in Russland.
GrOb und dessen Lieder haben in Russland einen Kultstatus. Unterschiedlichste Menschen können ihre Lyrics auswendig: Punks und Skins, Anarchisten und Kommunisten, Gopniki und die Bildungsschicht, Linke und Rechte, denn sie alle vereinte mal der Widerstand gegen die sowjetische Diktatur. Die ständige Wandlung, Widersprüchlichkeit, Selbstaufopferung, Hass gegen die korrupte und verlogene Regierung – das sind nur einige der Eigenschaften der damaligen und der heutigen Gegenkultur in Russland.
PUNK STATT PUTIN
Norma Schneider hat versucht, die Gegenkultur Russlands und ihre Auflehnung gegen den Kreml zu verstehen und sie in ihrer Breite dem deutschsprachigen Publikum näher zu bringen. Es ist ihr gelungen, trotz der Corona-Pandemie und trotz der neuen Eskalationsstufe des russländischen Krieges gegen die Ukraine. Das Buch gliedert die Gegenkultur in drei Untergruppen auf: der Mainstream, Musik und Literatur. Unter Mainstream wird hier eine Kultur verstanden, die für den Staat unkritisch und somit auch zu seinen Befürwortern gehört und allmählich die Vorstellungen von einer heterosexuellen Norm, der Heldenrolle Stalins und LGBTIQ* als einer westlichen Pandemie in die Gesellschaft transportiert. Die Gegenkultur erscheint so als das Gegenteil zu dem Mainstream – Kulturerscheinungen, die dem Staat nicht gefallen und von ihm deshalb sanktioniert werden. Dafür braucht es oft nicht viel: Eine öffentliche Aussage, ein Sticker, ein Plakat oder die schlichte Erscheinung zu einer (nicht-genehmigten (andere gibt es nicht)) Kundgebung für den Frieden und gegen den Krieg gegen die Ukraine. Einige der Künstler*innen sind auch außerhalb von Russland bekannt, so Pussy Riot oder Pjotr Pawlenski. Viele andere jedoch nicht, weil sie bewusst im Untergrund bleiben (sowohl Linke als auch Rechte) oder “zu unbedeutend” für die Medien im Westen sind. Norma Schneider schreibt aber auch über sie.
Pop-Musiker*innen wie Monetochka, Alexander Gudkov und Cream Soda werden ebenfalls zum Teil der Gegenkultur, weil sie nicht mehr schweigen können. Auch wenn einige von ihnen vor 2022 teilweise im staatlichen Fernsehen und bei staatlich unterstützten Events aufgetreten sind, zog die großflächige Invasion in die Ukraine einen Schlussstrich für Viele im russischen Showbusiness. Es sind aber auch Musiker*innen dabei, die schon immer für den Großteil der Gesellschaft unbekannt waren, wie z.B. die Hardcore Band Moscow Death Brigade oder das Elektroduo IC3PEAK. Beide Projekte verbindet die Unabhängigkeit, der Untergrund, die Ungeschminktheit der lyrischen Themen, Staatskritik, eine gewisse (zum Teil größere) Bekanntschaft außerhalb von Russland und das DIY-Prinzip. Ziemlich Punk also.
Im Bereich der Literatur werden die Größen der russischen Gegenwartsliteratur aufgezeigt, aber auch Poetry Slamer und Dichter*innen, die in Russland geblieben (z.B. Pascha Nikulin und Lirika) sind oder Russland verlassen haben (z.B. Dinara Rasuleva). LGBTIQ* ist hier dabei ebenfalls ein zentrales Thema, denn die russländische Regierung spricht den Menschen immer mehr Rechte ab und macht sie zum Sündenbock für die meisten Probleme Russlands. Die Gesellschaft braucht einen Feind. Wie lediglich die Verkaufsrekorde für queere Literatur in Russland zeigen, ist der Kampf hier lange nicht verloren.
FAZIT: Ein GELUNGENES BUCH
Das Buch gehört in jedes kulturwissenschaftliche und politologische, musik- und kunstwissenschaftliche Regal sowie Privatbibliotheken von Musik- und Kulturbegeisterten, die wissen, dass Musik nicht nur Unterhaltung ist. Es gehört aber auch in jedes Regal von Punks und weiteren Menschen, die sich für den Protest und die Gegenkultur interessieren. Musik ist eins von vielen Werkzeugen einer Bewegung, einer Gegenkultur, die Punk heißt und viele unterschiedliche Stimmen und Meinungen vereint, die nebeneinander und manchmal sogar gegeneinander agieren. Das Ziel ist meistens jedoch eins: der Kampf gegen die Autorität, die von alten und weißen Patriarchen ausgeht.
Das Buch ist eine absolute Empfehlung für alle, die vielleicht schon mal von Pussy Riot gehört haben und erfahren sollten, dass sie nicht die einzigen waren und sind, die seit Jahren gegen Putin und seine Regierung im kulturell-aktivistischen Bereich kämpfen.
PUNK STATT PUTIN:
Gegenkultur in Russland
Norma Schneider
Ventil Verlag 2023
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Titelfoto © osTraum
Cover © Ventil Verlag
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