Ein Werk von über 300 Seiten, mit über 400 Fußnoten und zahlreichen Fotografien und historischen Abbildungen; ein Werk, das die Geschichte von Jud*innen in Deutschland rekonstruiert und aufzeigt – „Wir sind da!“ und das eben seit rund 1700 Jahren. Für die Leser*innen mögen sich am Anfang zwei Fragen stellen – 1) 1700 Jahre: so lange? Und 2) Gab es denn Deutschland vor 1700 Jahren? Die Fragen werden auch gleich beantwortet: Auf den Gebieten, die wir heute als Deutschland verstehen, wurde die jüdische Bevölkerung zum ersten Mal im Jahr 321 erwähnt. Der römische Kaiser Konstantin erwähnte unter anderem die Jüd*innen als Siedler der römischen Kolonie am Rhein, heute: Köln. Die germanischen und die slawischen Stämme, aus denen sich viel später die Deutschen herausbildeten, hatten zu der Zeit kein zusammenhängendes Staatsgebilde. Diese Erkenntnis ist auch eine der zentralen in dem Buch: Jud*innen waren hier, noch bevor es die Deutschen überhaupt gab.
Nun aber zurück zur modernen Geschichte und Gesellschaft. Warum beschäftigen wir uns beim osTraum Journal mit dem Buch? Unser Fokus liegt doch auf Ost-, Mittel- und Südosteuropa sowie dem Baltikum, Kaukasus und Zentralasien. Das möchten wir in unserer Buchbesprechung klären. Eins der Einstiegsnarrative in das Werk ist die Frage des Historikers Dmitrij Belkin, der im ukrainischen Dnipro geboren wurde und als jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland kam: „Ist dieses Deutschland, das einst die Juden vertrieb und vernichtete, heute doch wieder auf dem Weg, ein jüdisches Land oder zumindest ein Land mit vielen jüdischen Spuren zu werden?“. Die Beantwortung auch dieser Frage beginnt noch vor der Formulierung der Frage mit dem jüdisch-russisch-deutschen Historiker Simon Dubnow, der in den 1920-er Jahren feststellte, dass die deutsche Geschichte ohne der jüdischen nicht erzählt werden kann. Hierbei spielen auch alle erdenklichen Gruppen eine Rolle – die deutschen Jud*innen, die jüdischen Deutschen, die zum Christentum konvertierte Jud*innen, die atheistischen Jud*innen, die Ostjud*innen, die Westjud*innen, die Vaterjud*innen und viele weitere Schubladen, doch bereits diese Oberbegriffe schaffen viel Raum für Diskussion und auch Reflexion über die deutsche Geschichte, nicht nur im 20. Jahrhundert, sondern eben in einer langen historischen Perspektive.
Trotz des jahrhundertelangen Lebens miteinander oder nebeneinander konnte die deutsche Bevölkerung die Vorurteile über das Anderssein der Jud*innen nicht ablegen. Und das begann nicht erst 1933. Aus nicht-jüdischer Sicht wurden z.B. die Jud*innen Galiziens als „die Gefahr aus dem Osten“ angesehen, was unter anderem Joseph Roth in Juden auf Wanderschaft (1927) hervorhob und kritisierte. Defragmentiert werden Jud*innen auch heute noch, z.B. als „die unbekannte Welt nebenan“ (Der Spiegel: Geschichte (4/2019)).
Doch das jüdische Leben erlebt eine Wiedergeburt, auch wenn viele nicht-jüdische Teile der deutschen Gesellschaft immer noch das Schweigen über die Taten der (Ur-)Großväter und (Ur-)Großmütter nicht brechen können, auch wenn weiterhin Denkmäler für SS- und Wehrmachtsangehörige zum Alltag gehören, auch wenn sich unter dem Deckmantel der Israelkritik oft schlichter Antisemitismus verbirgt. Musiker wie Daniel Kahn, Sharon Brauner, Karsten Troyke, Ben Salomo und Igor Levit zeigen, dass jüdische Kultur ein Teil der deutschen Kultur ist und dass Jüd*innen zu Deutschland gehören und Deutschland reicher machen.
Es sind auch Events, wie Yiddish Summer Weimar, die Jüdischen Kulturtage in Berlin, München und Hamburg oder Jüdische Kulturwochen in Stuttgart, die das jüdische Leben in seinen zahlreichen Facetten wieder aufleben lassen und für alle zugänglich machen, damit es nicht mehr die „Fremden“ und „Unbekannten“ gibt, wie es Gad Granach – israelischer Schriftsteller und Sohn von Alexander Granach (u.a. Nosferatu (1922)) – einst formulierte:
Man war stolz, jüdisch zu sein, und man kam sich gleichzeitig sehr deutsch vor. Deutsch und jüdisch ging wunderbar zusammen!
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In Uwe von Seltmanns Werk “Wir sind da! 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland” wird auf eindrucksvolle Weise eine lange und vielschichtige Geschichte von Jüd*innen in Deutschland beleuchtet. Die sorgfältige Rekonstruktion dieser Geschichte offenbart, wie tief verwoben jüdisches Leben mit der deutschen Gesellschaft ist, trotz der Vorurteile, trotz der Verbrechen an der Menschheit, mit denen die jüdische Gemeinschaft konfrontiert wurde und teilweise immer noch wird. Dieses Buch ist ein eindrücklicher Aufruf zur Reflexion über die Geschichte, Identität und Kultur, die Deutschland geprägt haben. Es richtet sich gleichermaßen an Geschichts- und Kulturinteressierte und all jene, die ein besseres Verständnis für die Vielfalt und Bedeutung des jüdischen Lebens in Deutschland gewinnen möchten. “Wir sind da!” erinnert uns daran, dass die jüdische Geschichte ein integraler Bestandteil der deutschen Geschichte ist und dass die Aufarbeitung und Wertschätzung dieser Geschichte eine wichtige Aufgabe für uns alle darstellt. Dieses Buch ermöglicht es uns, den Blick über die Jahrhunderte zu richten und die tiefe Verbindung zwischen jüdischer und deutscher Kultur zu erkennen, die uns alle reicher macht.
Wir sind da! 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland
Uwe von Seltmann
homunculus verlag 2021
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Titelfoto © osTraum
Cover © homunculus verlag
(1) „Heimat los! Aus dem Leben eines jüdischen Emigranten“, Frankfurt am Main, 2000, S. 20. Zitiert nach: von Seltmann, U.: Wir sind da! 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“, Erlangen, 2021, S. 274.