Russischsprachige Lyrik wird außerhalb Russlands bzw. der ehemaligen Sowjetunion zumeist mit Alexander Puschkin, Marina Zwetajewa oder Boris Pasternak assoziiert. Die Werke dieser Autor*innen sind meistens nicht nur rhythmisch und gereimt, sondern erzeugen bei dem Zielpublikum eine Erwartungshaltung eines ästhetisch ansprechenden oder sogar angenehmen Inhalts. Zugegeben, die Inhalte können auch politisch und gesellschaftlich kritisch sein und die dunklen Seiten des menschlichen Daseins ansprechen – Tod, Depression, Krankheit, Krieg, Haft. Nichtsdestotrotz bleibt oft die Erwartung “Das muss doch trotzdem schön zu lesen oder anzuhören sein”. Nein, muss es nicht. Abgesehen von der Subjektivität des Schönen, erfüllt Lyrik auch die Funktion der Ver- und Aufarbeitung von persönlichen und kollektiven Ereignissen. Die Form bleibt dem intuitiven Schöpfungsakt überlassen, wo Rahmen von Gattung, Takt und Tradition fahl am Platz sein können.
Das Wort ist ein Instrument. Es kann besänftigen, schockieren, versöhnen, unterhalten oder provozieren. Das Sammelheft ЛИРИКА (LIRIKA) bringt seit 2019 auf fast 100 Seiten Werke von Untergrund-Autor*innen heraus. Ihre Werke sind ironisch, teils auch brutal, sie sind frei von Zensur – Selbstzensur und staatlicher Zensur. Auch wenn sie oft die “normale” Alltäglichkeit darstellen, greifen sie tief ins Eingeweide rein und lassen die Leser*innen nicht gleichgültig.

Die Autor*innen kommen aus Russland, der Ukraine und Deutschland. LIRIKA ist ein echtes Punk-Zine, das von Mitgliedern der poetischen Formationen “Vol’nost'”, “Majakovskie Čtenija” und des journalistischen Projekts “moloko plus” kreiert wurde. Auch das Layout spiegelt die DIY-Punk-Kultur wider – zusammengeklebte Seiten, Bleistiftnotizen, Fotokopien, Abdrucke von Ausweisseiten im Hintergrund – alles digital zusammengetragen und verlegt. In der ersten Ausgabe wurden Gedichte von 10 Dichter*innen abgedruckt: Dmitri Ademin, Dani Berkovsky, Irina Volynskaya, Julia Vilyanen, Evelina Gańska, Roma Gonza, Kolya Daineko, Jegor Enotov, Artem Kamardin und Paša Nikulin.

Für osTraum scheint es passend zu sein, nicht einzelne Werke und Autor*innen zu besprechen, sondern auf die Lyrik zuzugreifen und so zu versuchen, die Gedanken und Empfindungen nach der Lektüre des Bandes ins Deutsche zu transferieren:
Hinterm MKAD gibt’s Leben und Alk, schrieb Berkovski,
In meinem Kopf taucht das Leben im MŽK auf,
Ammoniakgestank im Treppenhaus, dunkle Aufzüge,
Metalltüren, Kippen, 1,43 Ångström.
Dude – Nein, Čuvak – sagt, Bullen sind nicht nett,
Neverland, Moskau, Kapustin Yar, Kapyar,
Ich denke, es gibt sie, doch sie quittieren den Dienst,
Ein Blutgerüst für Laika, Gutmütigkeit und Mitgefühl.
s e x u e l l e r e v o l u t i o n u n d f e n s t e r
Paša Nikulin wollte zu ‘nem Rave und lächelte.
Der Sommer brannte in Berlin, Washington und Moskau,
So high, die Polizei, Gewalt und Koks, die Höh’, sturzbesoffen
grüne Männchen und auch schwarze gehen in die Kathedrale.
Weg ist die Stasi, doch die Menschen auf beiden Seiten nicht.
Gonza, Punk, Proletarier, Wodka. Das Reich des Bösen. Kalt.
Ein Kreuz, ein meta-post-moderner Schmetterling. Hosentasche.
Drittes Rom – graue unterdrückte Büroangestellte.
Barbaren sind immer noch da, die Mutter-Heimat ruft.
m ü t t e r c h e n f e u c h t e e r d e s c h r e i t w e i n t.
Kamerad sendet Wellen, dafür gibt es keine Worte,
Meine Revolution, dein Leben, mein Rock’n’Roll
Und wieder der Tsar, aber ein andrer. Seiten auf Null.
Im Ausweis die Bereitschaftspolizei mit einem Schlagstockkondom.
Der Seemann aus dem Bergbau schreitet voran, als wäre er am Leben.
Nicht Will.I.Am, sondern Viljanen, Julia, nicht Julius,
Junge, du bist Schnee, Junge, du bist Wasser, aber
Lass ma die U-Haft, besser is ne Demo, Kaffee, Kino,
Das ewige hin und her, Anmeldungen und Hauptstädte.
Dezentralisiere, schreibe dann Briefe und atme.
Starke und schwache Solidarität, vergessen wir die KPdSU.
Und wieder Plattenhäuser, Alkohol und Rauch.
I. Volynskaya holt ein Sonett aus ihrem Holster,
Vergiss, was du wusstest und schau’, was es drum herum zu sehen gibt,
Warum sind wir nur unseren Eltern so ähnlich?
Russland im Pass, Doku Mental Notizen Block,
Und wieder Hütten aus Beton, Winter, schwarzer Schnee.
Großgrundbesitzer. Die Faust der Tsarin und des Tsaren.
In ihren Fäusten ist ihr Messer.
Jegor, lass uns reden. In der Küche flüstern.
Die Arche bringt uns aus dem Archipel bald.
Ščelbany und Fofany, Raserei, ein Halbmensch.
Dünnes Quietschen von Müttern. Er ist gegangen. 20. Jahrhundert.
Ad em in und Dämon en, Lagerräume Luzifers,
Neuer Oktober, neuer November, wir habe sie gekannt.
Die Nase läuft, Flüsse aus Blut, keine Vogelscheuchen
auf dem Marsfeld, auf dem Hof in dem Microrayon.
Das Wort trifft das Gehirn, Donner in dem Treppenhaus.
Evelina Gańska, Effie Brist, Baron Odessa,
Panzerwalzen und das Journalistenleben
verschmolzen zu einer Welle in einem Glas Äther,
Sie töten uns, sie werden getötet, wir töten,
Linien auf Karten, das Leben gehört mir und dir
Überleben fürs Leben. Wann ist es so weit?
Nicht mehr lange. Hinter Hünengräbern und Gruben.
Hier und jetzt. Wir atmen weiter. Das Ende naht.
LIRIKA erscheint auch digital.
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