Die 7 Klassiker des armenischen Films

Wer sich auf dem Süd-Kaukasus gut auskennt, kennt vielleicht den einen oder den anderen armenischen Film. Obgleich einige Klassiker, wie Die Farbe des Granatapfels, auch in der weltweiten Popkultur vorzufinden sind. Armenien wird auch in den deutschsprachigen Medien immer präsenter – als Reiseziel oder im Kontext des Konflikts[1] um Bergkarabach – der Grenzregion zwischen Armenien und Aserbaidschan, in der vor allem Armenier*innen daheim sind, die jedoch von Aserbaidschan beansprucht wird. Armenische Filme, von denen die Filmgeschichte des Landes geprägt wurde, sind bei uns jedoch noch weitestgehend unbekannt. Das soll sich ändern. osTraum möchte euch die sieben Klassiker des Armenischen Films vorstellen, die sich perfekt für den nächsten Filmabend, oder Armenian Cinema & Chill eignen.

Der Tango Unserer Kindheit (1984) | Մեր մանկության տանգոն

Im Gjumri (damals Leninakan) der Nachkriegszeit verstößt Ruben (gespielt vom legendären Mher Mkrttschjan) seine Familie, angeblich nachdem seine Söhne für künstlerische Berufe entschieden haben. Das Künstlerdasein war damals oft ein verpönter Beruf, den die Sowjetunion in dem Film hervorheben wollte. Die beiden Söhne und seine Frau Siranusch (gepielt von Galja Nowets) verlässt Ruben jedoch in Wirklichkeit für eine andere Frau. Eine Frau, die ihm im Krieg das Leben gerettet hat. Siranusch kommt mit der Situation nicht klar und versucht Gerechtigkeit für sich und ihre Kinder einzufordern. Wird sie mit dem traumatisierten und unliebsamen Ruben einen Kompromiss finden? Der Film ist ein buntes Schauwerk des Regisseurs Albert Mkrtchjan und des Kinematographen Rudolf Vatinjan. Ein Bild in die Tragödie einer verlassenen Frau, die drei Kinder groß ziehen und dabei lernen muss, mit den Schicksalsschlägen des Lebens umzugehen.

Armenische Version:

Russische Version:  

Die Ohrfeige (1980) | Կտոր մը երկինք

Torik ist ein Waisenkind, welches von seinem Onkel (gespielt von Mher Mkrttschjan) und seiner Tante (gespielt von der Georgierin Sofiko Chiaureli) großgezogen wird. In der Schule ist er nie gut gewesen, doch er ist ein herzensguter Mensch. Er lernt das Handwerk seines Vaters: Reitsessel für Esel zu machen. Als Erwachsener (gespielt von Aschot Adamjan) hat Torik kein Glück bei den Frauen. Nach dem Tod seines Onkels macht sich jedoch seine Tante auf die Mission, eine Frau für ihn zu finden. Vergeblich. Nach einer Weile tauchen drei Frau mit dem ältesten Beruf der Welt in der Stadt auf, und so lernt Torik die Anzhel (gespielt von Galina Beljajewa) kennen. Liebe auf den ersten Blick, inkl. gesellschaftlicher Schwierigkeiten. Der Regisseur Henrik Maljan greift ein sensibles Thema auf. Der Film spielt in den 1930ern und zeigt ein anderes Bild der Prostitution und das so weit, wie ein Film in der Sowjetunion gehen konnte. Die Heuchelei der Männer der Stadt, die Torik dafür verurteilen, dass er sich in eine Prostituierte verliebt hat. Gleichzeitig besuchen die gleichen Männer das neu eröffnete Bordell der Stadt. Kann Anzhel die Herausforderung eines neuen Lebens jenseits der Prostitution meistern?

Armenische Version:

Russische Version:  

Die Farbe des Granatapfels (1968) | Նռան գույնը

Diese Liste wäre unvollständig ohne Die Farbe des Granatapfels. Das Werk des Weltberühmten Sergei Paradschanow erzählt die Gesichte des armenischen Musikers Sajat Nowa, nach welchem der Film auf Armenisch benannt ist. Die Georgierin Sofiko Chiaureli spielt gleich sechs Rollen in dem Film (männliche und weibliche), mitunter verkörpert sie den Künstler in seiner Jugend. Der Film ist eine audiovisuelle Reise durch das Leben Nowas, mit kaum Dialog, aber mit viel Ausdruck. Er wurde in Armenien, Aserbaidschan und Georgien an einer Vielzahl von historischen Orten gedreht und ist für sowjetische Standards einer der seltenen Beispiele von Filmen, bei welchen religiöse Symbolik überwiegend die Zensur überlebt hat. Da der Film in den Augen des Zensurbüros nicht genügend “Aufklärungsarbeit” über das Leben von Sajat Nowa leiste, musste der Titel gewechselt werden, auch auf Armenisch. So entstand der Name Die Farbe des Granatapfels, welcher sich in den meisten Weltsprachen gehalten hat. Auf Armenisch heißt der Film wieder Sajat Nowa, interessanterweise etablierte sich dieser Name z.B. auch im Französischen. Paradschanows Meisterwerk ist schwer in Worte zu fassen für jene, die sich noch nicht auf die Reise durch Nowas Leben gemacht haben. Die Farben, Ausdrücke und Töne, die man zu sehen bekommt, vereinen sich in herrlicher Harmonie. Heutzutage sind die Einflüsse des Films selbst in westlicher Popkultur wiederzufinden, wie z.B. in Musikvideos von Ikonen wie Madonna oder Lady Gaga.

Armenische Version:

Russische Version:  

Weiße Träume (1985) | Ճերմակ անուրջներ

In einem armenischen Dorf, weit vor der Zeit der Sowjetunion, kommt es zu einem interessanten Klassenkampf. Hakob (gespielt von Sos Sarkissjan) ist Friseur und Taubenliebhaber. Er lebt in armen Verhältnissen mit seiner Frau (gespielt von der Ikone Galja Nowets) und seiner Tochter. Die Familie wohnt neben der reichsten Familie im Dorf. Der Hausherr Ter-Marut (gespielt von Asat Gasparjan) verachtet seinen Nachbarn mit seiner kleinen Taubenfarm. Doch als sein Sohn Ara sich in die Tochter des Taubenfarmers verliebt, sorgen die zwei Turteltauben für einen Konflikt der das ganze Dorf erschüttert. Ter-Marut schmeißt Ara umgehend aus dem Haus, denn er lässt sich nicht seine Ehre verschmutzen. Und selbst nachdem der Lehrer, der Priester und die eigene Frau ihn darum bitten, seinen Sohn wieder aufzunehmen, lässt er nicht locker. Der Regisseur Sergej Israjeljan zeigt die dunkle Seite der “alten” armenischen Gesellschaft. Die Liebe steht im Konflikt zur Klassenzugehörigkeit. Ter-Marut, der im Laufe des gesamten Films als der Böse dargestellt wird, gewinnt am Ende und kriegt genau das, was er will. Es scheint hier eher überflüssig zu erwähnen, dass der Film keine Probleme mit den sowjetischen Zensurbüros hatte.

Armenische Version:

Russische Version:  

Unser Hof (1996) | ﬔր բակը

In dieser zweistündigen Komödie dreht sich alles um das Leben in einem Jerewaner Innenhof, wo jeder jeden kennt und Intrigen sich schnell ausbreiten. Es gibt keine wesentliche Handlung, der Film ist vielmehr ein Porträt der Charaktere, die man in einem typischen Hinterhof in Jerewan in den 90er Jahre finden kann. Da gibt es die Gangster in Lederjacken, zwei Nachbarn, die eine Affäre haben, ein Staatsbeamter, der Russisch benutzt, um sich anspruchsvoll zu geben (obwohl sein Russisch ziemlich grausig ist). Es gibt einen beeindruckenden Tanzwettbewerb zwischen zwei Jerewaner Gangs, der an West Side Story erinnert. Und vielleicht am überraschendsten ist ein Gastauftritt von Boney M. Der Einfluss der Films von Mikael Dowlatjan war wirklich groß, da Armenien in der Zeit nach der Wende nicht viel armenische Produktionen hatte. Etwas unterhaltsames, interessantes und vor allem repräsentatives aus dem Alltagsleben und Kultur der Armenier auf die Leinwand zu bringen, ergatterte dem Film einen Kultstatus. Zur Einordnung: Der Film kam in einer Zeit, in der Armenien noch im Wiederaufbau nach einem Erdbeben (1988) und Krieg (1992-93) und die Stimmung in der armenischen Gesellschaft relativ angespannt war. Deswegen hat der Film so einen hohen Ruf, dass Phrasen und einzelne Passagen nun ein fester Bestandteil der Armenischen Sprache sind.

Der Film ist online nicht kostenlos aufrufbar.  

Die Jahreszeiten (1975) | Տարվա եղանակները

Das berühmteste Werk von Artawasd Peleschjan ist eine halbstündige Reise durch die Jahreszeiten auf einem armenischem Dorf. Die Gemeinde kämpft gegen die Einflüsse der Natur über die vier Jahreszeiten hinweg. Armenische Volksmusik und Vivaldis vier Jahreszeiten begleiten den Zuschauer während er den Bauern bei der Zucht zusieht, Stürme beobachtet, Teil einer Hochzeit wird und schließlich sich durch einen verschneiten Hügel kämpft. Artawasd Peleschjan ist normalerweise für seine Nutzung von Archivmaterial bekannt, doch bei den Jahreszeiten filmte er zum ersten Mal seine Szenen selbst, zusammen mit Mihail Wartanow als Kinematrographen. Seine Filme werden oft an der Grenze zwischen Dokumentar- und Spielfilm eingeordnet, und sind von ihrer Natur aus mehr Avantgarde als herkömmliche Dokumentarfilme.

Armenische Version:

Russische Version:  

Nahapet (1977) | Նահապետ

Nachdem er seine Frau und seine Kinder im Osmanischen Genozid an Armenier*innen verloren hat, findet sich Nahapet (gespielt von Sos Sargsjan) in einer tiefen Depression wieder. Vertrieben aus seiner Heimat, lebt der einstige Kämpfer in einem kalten Dorf im neuen sowjetischen Armenien. Geprägt von seiner tiefen Trauer begleitet der Film einen durch die Flashbacks des Völkermords und den Versuch einen der größten Verluste seines Lebens zu überwinden. Nachdem der Mann seiner Schwester (gespielt von Mher Mkrttschjan) für Nahapet eine Frau (gespielt von Sofik Sarkisjan) findet, und die Sowjetunion den beiden Land zuteilt, welches sie bebauen können, kommt neue Hoffnung auf. Henrik Maljan zeigt in seinem berühmten Werk durchaus einen politischen Schachzug der Sowjetunion, der sich gut auf die Loyalität der Armenier*innen gegenüber der UdSSR auswirkt. Denn der Genozid ließ tiefe Wunden in der Gesellschaft, die die Sowjetunion zu heilen und für sich zu nutzen versucht hat. Mehrfach wird im Film wiederholt, wie wunderbar es sei, dass Lenin endlich die Armenier*innen beschützen würde. Interessant dabei ist auch die Kritik an der Kirche, die dem Narrativ folgt, dass “Gott seinen besten Soldaten die härtesten Kämpfe zuteilt”, und alles ein “Loyalitätstest gegenüber der Kirche sei”, was jedoch in der armenischen Gesellschaft, aufgrund des starken Leides, nicht gut ankam.

Armenische Version mit englischen Untertiteln:  

Der osTraum-Bonus:

Neben den sieben Klassikern des armenischen Films, wäre es schade einen Film aus der russisch-moldauischen Filmgeschichte nicht zu nennen, da die armenische Filmemacherin Inessa Tumanjan an ihm mitgewirkt hat und somit eine der wenigen Frauen in der Industrie war:  

Ljubit’… Lieben… (1986) | Любить…

Der von Michail Kalik und Inessa Tumanjan gedrehte Klassiker beschäftigt sich mit der Liebe in vier zusammengeschnitten Kurzgeschichten, begleitet durch Straßeninterviews mit verschiedenen Sowjetbürgen zu der Frage, was denn die Liebe ist, und was sie für sie bedeutet. Ob man sich mit dem Gefühl kritisch auseinander setzt, oder sich einfach nur der Liebe hingibt, ist etwas, was jeder Bürger für sich bewertet. In den Kurzgeschichten geht es sehr dynamisch zu. Ob es eine kleine Feier ist, wo drei Paare und ein einsamer Mann zufällig auf eine Aufnahme der Liebesbekennung stoßen und über Gott und die Welt reden; oder ob es der junge Sergej ist, der der Fahrscheinkontrolleurin Anja wieder Hoffnung macht, dass sie eines Tages wieder von einem Mann geliebt werden wird; oder ob es ein Paar ist, welches die ganze Nacht durch Moskau wandert, weil kein Hotelzimmer mehr frei ist, und dabei versucht zu verstehen, wie sie ihre Fernbeziehung führen sollen; oder ob es der junge Mirtscha ist, der auf dem Weg zurück in sein moldauisches Dorf ein Mädchen kennenlernt, die Nacht mit ihr verbringt und sich dann gezwungen sieht, sie zu heiraten. Sie alle erzählen von den verschiedenen Formen und Herausforderungen der Liebe. Der Film selbst wurde in der Sowjetunion nur drei Jahre lang gezeigt. Kalik emigrierte 1971 aus der Sowjetunion nach Israel und seine Filme durften nicht mehr gezeigt werden. Erst 1992 entstand eine neue unzensierte Version, die bis heute abrufbar ist. Inessa Tumanjan führte ihre Karriere in der sowjetischen Filmindustrie fort und drehte noch einige weitere Klassiker in Moskau. Als Künstlerin ausgezeichnet wurde sie erst 2000 in der Russischen Föderation.

Russische Version:


[1] 2020 war der Krieg um Bergkarabach ein viermonatiger bewaffneter Konflikt zwischen den Streitkräften Armeniens und Arzachs gegen Aserbaidschan, der im November 2020 endete. Die Kämpfe begannen im Juli an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze und weiteten sich zur bewaffneten Auseinandersetzung aus, bei der Aserbaidschan Gebiete in Bergkarabach eroberte. Dieser Konflikt knüpft an die ungelösten Spannungen aus den dem bewaffneten Bergkarabachkonflikt der 1990er Jahre an. Bis heute gibt es gewaltsame Zwischenfälle in der Region.


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