Hinweis: Das Interview wurde vor dem 24.2.2022 – dem Beginn der russländischen Invasion in der Ukraine – geführt.
Seit gut 12 Jahren gibt es das PANDA platforma (ehem. PANDA Theater) in Berlin. In dieser Zeit entwickelte es sich zu einer Instanz nicht nur für postsowjetische Intelligenzija, sondern auch für alle Berliner:innen und Gäst:innen, ganz egal welchen Background und Sprachkenntnisse sie haben. Mit seiner klaren politischen Positionierung ist das Prenzl’berger PANDA ein Magnet für progressive und kreative Persönlichkeiten des europäischen Kulturlebens. Das Team des Vereins um die Frontfrau Svetlana Müller und ihre einzigartigen Künstler:innen, wie z.B. Dinara Rasuleva oder Wladimir Sorokin, setzen mit ihren Events nahezu täglich Zeichen gegen die Diktatur(en) und patriarchale Strukturen, gegen Putin und das oft einseitig klassische Bild der russischen Kultur als DIE Kultur des (post)sowjetischen Raums. PANDA setzt auf Offenheit, Diversität, Vielsprachigkeit und ein multimediales Programm: Jazz, Electro, Pop, Folk, Theater, Ausstellungen, Performances, Poetry Slams, Lesungen und vieles mehr aus Belarus, Ukraine, Georgien, Estland, Israel, Polen, Russland und natürlich Deutschland auf der gemütlichen Bühne im neuen Prenzlgrad.
Aktuell bietet PANDA jeden Sonntag zwischen 14 und 20 Uhr safe spaces für Ukrainer:innen mit Fluchterfahrung an – ein Ort menschlicher Kommunikation ohne Hass, Vorurteile und Diskriminierung. Kinder und Jugendliche sind ebenfalls willkommen. Kennt ihr gefluchtete Ukrainer:innen? Leitet es weiter:

osTraum hat sich mit Svetlana unterhalten und ihr drei Fragen darüber gestellt, wie Kultur ihr Leben beeinflusst hat, von welchen Events sie träumt und welche Zukunft sie für Kultur in Russland sieht. Viel Freude bei dem Interview!
osTraum: Welches von dir durchgeführtes Event war dasjenige, bei dem es von der Idee bis zum tatsächlichen Event am längsten gedauert hat?
Svetlana Müller: Auch wenn ich eher aus dem musikalischen Bereich komme, war es ein literarisches Event. Wladimir Sorokin ist einer der bekanntesten zeitgenössischen russischen Autoren. Ich habe ihn im frühen Herbst 2018 angefragt, ob er bereit wäre, im PANDA Theater eine Lesung zu veranstalten – und er hat freundlich zugesagt. Es hat fast ein Jahr gedauert, bis wir uns überhaupt getroffen haben. Ich war total aufgeregt und Sorokin machte es mir nicht einfacher, indem er sich ausdrücklich mich als Moderatorin wünschte. Alle meine Versuche, ihm zu erklären, dass ich noch nie moderiert habe und ihm jede andere Moderation seiner Wahl gewährleisten würde, wurden mit einem freundlichen „Ich glaube, Sie werden es schon schaffen“ unterbunden. Den ganzen Sommer las ich nur Sorokin: Erzählungen, Romane, Interviews… Es war ein seltsamer und schöner Urlaub. Dann wurde die Lesung kurzfristig abgesagt. Alle, wirklich alle, die Sorokin persönlich kannten, meinten zu mir: Nimm es nicht persönlich! Das passiert bei ihm oft.
Dann haben wir doch noch einen Ersatztermin gefunden. Ich habe ein ausgefallenes Programm für den Abend konzipiert und war total gespannt auf die Lesung. Von Anfang an lief alles schief: Kurz davor hatte ich eine Gehirnerschütterung und daraufhin leichte Gedächtnisaussetzer. Sorokin kam fast eine Stunde zu spät. Er stieg aus dem Taxi und meinte: „Sveta, ich habe mir fürs PANDA etwas ganz Besonderes überlegt: Ich lese meine Gedichte, Gedichte aus meinen Werken! So was habe ich noch nie gemacht – es wird eine Premiere.“ In meinem Kopf zerfiel mein schlanker Plan, aber irgendwie wusste ich, es wird alles schön. Zehn Minuten später saßen wir auf der Bühne. Es war bis jetzt die schönste Lesung, die wir jemals hatten, aus der dann eine ganze Eventreihe „Treffen ohne Übersetzung“ (Встречи без перевода) entstand.
osTraum: Was waren die drei kulturelle Veranstaltungen oder Gäst:innen, die es im Panda Theater noch nie gab, bei denen du aber überglücklich wärst, wenn eine Veranstaltung zustande käme?
Svetlana Müller: Meine Träume werden wahr. Selbstverständlich nicht alle, aber die richtigen schon. Von Wladimir Sorokin erzählte ich bereits. Boris Grebenshchikov – einer der bekanntesten russischen Rock-Musiker – spielte auch schon bei uns im winzigen PANDA. Maria Stepanova laß im Herbst 2019 bei uns.
Einmal hatte ich einen Alptraum über die Rolling Stones: Ich war für den Ton zuständig, ohne dass ich es jemals gelernt hätte. Es war desaströs. Zum Glück waren die Stones unendlich geduldig und nahmen es mir nicht übel. Es war kurz nach einem Konzert von Jungs, die früher in Mano Negra und mit Mano Chao spielten. Vielleicht hat es meiner Traumfabrik einen Anstoß gegeben. Allerdings würde ich nicht die Stones unter meinen Traumkandidat:innen haben wollen, sondern The Cake, Squirell Nuts Zippers und Björk. Oder doch Nick Cave? Ok, ok! Auf dem Boden der Realität gelandet, nenne ich mal ein paar realistischere Ziele: AIGEL aus Tatarstan, und wieder Sorokin sowie das wunderbare estnische Duo Puuluup, das vor der Pandemie eins der schönsten Konzerte im PANDA gespielt hat.
Aber warum eigentlich nur drei Namen? Ich träume einfach weiter: von Henning May, der einmal beinahe bei uns gespielt hätte, von Meret Becker, von Moskauer Band Pakava It, von Optimistika Orchestra und Sankt Petersburg Ska Jazz Review, von unseren geliebten Alisa Ten, Vanya Zhuk, Psoy Korolenko – von all denen, die seit zwei Jahren nicht mehr herkommen können, sondern nur in meinen Träumen da sind. Und ich wünsche uns allen, dass wir diese Träume erleben!
osTraum: Gab es in deinem Leben DAS kulturelle Ereignis, das dich oder deine Weltanschauung verändert hat? Möchtest du, dass Menschen auch bei deinen Events solche Schlüsselerlebnisse haben – vielleicht auch in einem utopisch neuen Russland der Zukunft?
Svetlana Müller: Ich arbeitete 1991 im legendären Petersburger Club TaMtAm. Wir veranstalteten Indie-Konzerte und da erlebte ich zum ersten Mal live Ska, Punk, experimentelle Musik und Selbstvergessenheit bei der Arbeit. Aber DAS „kulturelle Ereignis“ meines Lebens organisierte ich mir selbst und zwar 1996 in Berlin. Mein Freund und Begründer von TaMtAm Seva Gakkel rief mich an und fragte, ohne lange herumzuschweifen: “Die Band „Chimera“ kommt nächste Woche. Kannst du uns ein Konzert organisieren?“ Nach einem einminütigen Telefonat mit St. Petersburg, das damals 3,30 DM kostete, hatte ich nicht zu viel Zeit zum Überlegen und meinte nur: „Klar!“. Am selben Abend lief ich erstmal in den „Schokoladen“ und dann ins „Eimer“ – die waren schon ausgebucht für die nächste Woche, gaben mir aber Telefonnummer von einem Typen aus einem besetzten Haus in der Linienstraße. Meinen ersten Job als Bookerin erledigte ich locker, indem ich ihn angerufen habe – drei Minuten später stand der Gig. Er fragte nicht, was die Band spielt, wollte keinen technical rider oder Demoaufnahmen. Auch Catering war kein Thema. Eine Woche später standen wir mit der Band vorm Haus mit zugenagelten Fenstern und geschlossenen Türen. Wir klingelten. Keiner machte auf. Irgendwann habe ich angefangen lauthals zu rufen: „Ist da jemand? Die Band ist da!“ Aus einem der doch nicht so fest geschlossenen Fenstern guckte ein Kopf raus, dann rief er ins Haus:
„Es sind keene Bullen! Macht off!“
Und schon waren wir drinnen. Der Keller, der als Konzertsaal diente, war nach einem Unwetter voll mit Wasser. „Letzte Nacht jab es hier eine Überschwemmung“, – meinte einer der Besetzer, – “Strom jab es auch nicht. Das Problem ham wa aber jelöst.“ Tatsächlich hingen zusammengebundene Kabel durch die Kellertür. Irgendwo draußen waren sie an öffentliche Leitungen angeschlossen. Strom gab es also doch. Auf dem Boden lagen alte Autoreifen – damit wir alle nicht im Wasser tanzen mussten. Der Saal füllte sich: vor allem mit Punks und Studenten, wie immer halt. Kurz vorm Anfang kam noch Sevas alter Freund und klassischer Gitarrist Valerij mit zwei russischen Schönheiten in weißen Blusen. „Chimera“ spielten los. Es war einfach die beste russische Band dieser Zeit, keine andere konnte solch eine Energie hervorbringen.
Nach ein paar Liedern fingen zwei Hausbesetzer vor Begeisterung an, Feuer zu schlucken. Sofort gab es keinen Sauerstoff mehr im Raum, das Publikum stürmte raus, nur die Musiker hörten nicht auf. Nach einer kurzen Pause ging es dann weiter. Nie davor oder danach habe ich solche Stimmung bei einem Konzert erlebt. Die Punks brüllten, die beiden weißblusigen Mädchen sprangen auf den Reifen, Redt – der Sänger – schrie in seine verkrummte Trompete. Als das letzte Lied vorbei war, sah ich den Gitarristen Valerij in seinem schönen Konzerthemd in einer Pfütze vor der Bühne knien: „Bitte, nur noch ein Song!“ – flehte er Redt an.
Es war ein Stück des utopischen Russlands der 1990-er, das sich per Wunder nach Berlin verirrte. Das utopische Russland der Zukunft wird wohl ganz anders sein – und das ist auch gut so.
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Foto in der Titelgrafik © Roman Ekimov für Panda