Wer beim Namen Charlottengrad stutzig wird und sich fragt, ob es sich hierbei nicht um einen Fehler handelt – Nein, das ist tatsächlich der Zweitname des Berliner Bezirks Charlottenburg. Das heißt natürlich nicht, dass es in amtlichen Briefen verwendet wird, jedoch ist die Bezeichnung ein fester Begriff im historischen Kontext der bundesdeutschen Hauptstadt. Nach der Oktoberrevolution 1917 flohen viele “Weiße” aus ihrer russischen Heimat, weil sie mit dem neuen System nicht einverstanden waren bzw. sich aufgrund ihrer Herkunft, ihrer sozialen, politischen oder religiösen Zugehörigkeit in Lebensgefahr befanden. Sie waren “weiß”, was sich natürlich nicht auf die Hautfarbe, sondern auf die monarchistische bzw. anti-revolutionäre Gesinnung bezog. Als Gegenteil dazu gab es die Roten und auch die Schwarzen (die Anarchisten).
Die weiße Migration aus Russland ging unter anderem nach Berlin und siedelte sich vor allem in Charlottenburg und Schöneberg an. In Charlottenburg bildete sich ein vielseitiges Diaspora-Universum – mit Geschäften, Restaurants, Zeitungen, Verlagen etc. 100 Jahre später ist der Bezirk immer noch sehr beliebt bei der russischsprachigen Intelligenzija und den finanzträchtigen Berlin-“Russen”. Bei der, die hier immer noch lebt und auch bei der, die heute aus Russland auswandert, wie beispielsweise der russische Schriftsteller Wladimir Sorokin.
Seit etwa 20 Jahren macht aber ein anderer Bezirk dem Charlottengrad mächtig Konkurrenz und deshalb benennen wir ihn in Prenzlgrad um. Hier sind 7 Gründe dafür:
7. Kasatschok
Der Lebensmittelladen bietet Basics in Sachen russischer und ukrainischer Küchen – Pelmeni (Teigtaschen mit Fleisch), Wareniki (veg. Teigtaschen), Kaviar, Fisch, Quark, Wodka, Kvas (osteuropäisches Malz-/Brotgetränk) und vieles mehr. Ein paar russische Bücher und Filme auf DVDs sind auch dabei. Ganz unweit der Station Schönhauser Allee, 6 Tage die Woche und ohne Zweifel authentisch.
6. Pasternak
Benannt nach dem russischen Schriftsteller, Dichter, Übersetzer und Literatur-Nobelpreisträger Boris Pasternak, bietet die Küche des Lokals ein reichhaltiges Angebot an Speisen und Getränken zu jeder Tageszeit an. Bliny oder Syrniki (Frischkäsepancakes) zum Frühstück, Schaschlik oder Broschtsch zu Mittag oder eben Alkoholisches mit internationalen Zakuski (kleine Speisen als Begleitung zu alk. Getränken). Nicht nur russisch kann man hier essen, sondern auch georgisch und jüdisch und Quinoa und Sandwiches und Avocado und Crunchy Müsli… Moment, was war das? Ja, das Angebot ist sehr modernisiert und einige Gerichte sind ggf. nicht sehr authentisch bzw. gar nicht russisch oder postsowjetisch. Die Preise sind überdurchschnittlich hoch.
5. Voland
Ein weiterer Bezug zur Klassik der russischen Literatur, denn so hieß der Teufel im Bulgakov’s “Meister und Margarita”. So verführerisch sind auch die Speisen – Kaviar und Fleisch mit verschiedenen Wodka-Sorten. Die Borschtsch-Suppe und Pelmeni dürfen auch nicht fehlen. Es gibt aber auch russische Eierkuchen Bliny und das populärste Bier Russlands Baltika. In der Speisekarte gibt es aber auch Gerichte der georgischen und ukarainischen Küchen. Alles so weit gut, aber was sagen die Preise? Die Preise sind sehr angenehm. Kaum ein Gericht kostet mehr als 15 €, die meisten sogar weniger als 10 €. Die Qualität leidet nicht darunter. Eine musikalische Begleitung gibt es dazu auch – bis zu zehn Mal im Monat gibt es live Musik.
4. PANDA Theater
PANDA ist nicht “nur” ein Theater. Auf dessen Bühne werden hauptsächlich keine Theaterstücke präsentiert, sondern sehr unterschiedliche Kunst-Formate – Lesungen, Konzerte, Slams, Impro-Theater, Video-Releases, Podiumsdiskussionen, Festivals und vieles mehr. Die jeweiligen Programmpunkte richten sich dabei auch an unterschiedliche Zielgruppen. Manche Events sind komplett auf Russisch, wiederum andere sind quasi international – also unabhängig von Sprachkenntnissen verständlich und genießbar.
3. Vinogradov Galerie
Unweit des Panda Theaters befindet sich eine weitere Kulturstätte Prenzlgrads – die Vinogradov Galerie. Hier werden Kunstwerke – egal ob Gemälde, Klein- und Großplastiken, Seidenmalerei, künstlerisch verzierte Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs (beispielsweise Stühle) – ausgestellt und verkauft, die zumeist von Künstler*innen aus Russland oder anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion stammen. Manchmal sind es auch deutsche Künstler*innen. Dabei wird hier nicht nur ausgestellt, sondern auch aktiv “installiert” und performt.
2. Kino Krokodil
Seit 1912 werden in den Räumen Filme gezeigt, doch das Kino trug nicht von vornherein den Namen des fleischfressenden Wirbeltiers und hatte auch nicht sofort den Schwerpunkt auf Russland. Mit Russland ist jedoch auch zu wenig gesagt. Das Kino spezialisiert sich auf Filme aus dem osTraum, darunter auch aus und über Ost-Deutschland. Zum großen Teil werden hier neue Werke und im Original mit deutschen oder englischen Untertiteln gezeigt. Für einen vollkommenen Kinogenuss können sich die Besucher*innen auch russischen Tee oder russischen Wodka holen. Einige russische Süßigkeiten gibt es hier auch. Das Kino ist aber keineswegs eine Diasporaerscheinung. Es ist jede*m zu empfehlen, der Indie Kino zu schätzen weiß.
1. ostPost
Ein Ort, der fast alles, was wir unter Nummern 7 bis 2 beschrieben haben, in sich vereint, ist ostPost. Das Lokal befindet sich an der Grenze zwischen Prenzlgrad und Mitte in der Nähe vom Rosenthaler Platz. ostPost hat sehr viel zu bieten – guten Kaffee für unterwegs und zum Bleiben, süße und herzhafte Snacks mit einem Hauch osTraum-Küche, Souvenirs und Kunst mit dem Schwerpunkt auf Ost- und Mitteleuropa und auch Bücher. Was ist den schon Prenzlgrad ohne Bücher? Hier – bei ostPost – findet ihr russische, ukrainische, tschechische, polnische, ungarische und andere Werke der schönen Literatur. Ab und zu, vor allem an Wochenenden, finden bei ostPost Sprachtandems, Kunst-Workshops und Lesungen statt.
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