Die Werke Vladimir Sorokins können kaum gleichgültig lassen. Sie werden bewundert, stoßen auf Ablehnung oder werden gar verteufelt. Manchmal werden sie sogar öffentlich verbrannt, wie das der Fall mit dem Roman „Der himmelblaue Speck“ (ru.: Goluboe Salo) 2002 gewesen ist. Sorokin gilt als einer der bekanntesten literarischen Vertreter:innen der russischen Postmoderne. In den 1980er Jahren war er im Kreis der Moskauer Konzeptualist:innen aktiv und publizierte im Samizdat. Heute lebt er zwischen Berlin und Bykowo (Moskauer Oblast‘).
So groß wie die Bandbreite der Gefühle zur Persönlichkeit Sorokins sein mag, so vielschichtig sind auch seine Texte. In seinem Roman „Norma“ (entstanden 1979-1984, herausgegeben 1994; de.: „Die Norm“) erschuf er ein eigenartiges Universum, in dem sich alle möglichen Gattungen der Literatur wiederfinden. Während manche Teile dieses Werks einen sozrealistischen Roman darstellen, spiegeln andere Kapitel den klassischen Roman des 19. Jahrhunderts, sowjetische Gedichte, den Briefroman und politische Parolen wieder. Und als ob diese Komplexität Sorokin nicht ausreichen würde, bettet er das Ganze in einen zusätzlichen Rahmen ein. „Norma“ ist ein Roman im Roman, der von KGB beschlagnahmt wird.
Warum greift Sorokin aber vor allem auf den Sozialistischen Realismus in „Norma“ zurück?
Der Roman “Norma” besteht aus acht Kapiteln, die sich alle voneinander unterscheiden, und auf den ersten Blick nicht unbedingt zusammenhängen. Im Prolog wird erklärt, dass der Roman von einem festgenommenen Schriftsteller verfasst wurde. Die 372 Seiten liegen in einer grauen Mappe dem KGB vor und werden zwecks einer Beurteilung gelesen.
Die Norm ist ein Schlüsselbegriff für den gesamten Roman. So nehmen die Figuren des ersten Kapitels täglich „Normen“ zu sich – die kleinen Briketts aus Fäkalien. Ein obligatorisches Nahrungsergänzungsmittel kann je nach sozialem Status von unterschiedlicher Qualität sein: Während die Arbeiter:innen die besonders harten und wenig schmackhaften zugewiesen bekommen, erhalten die Personen des höheren Ranges die „Normen“ von höherer Qualität. Der Konsum fängt ab dem Schulalter an, und sollte unbedingt täglich passieren. Nur ganz kleine Kinder bleiben verschont und verstehen nicht, warum die Erwachsenen die stinkenden und ekelhaften Fäkalien essen. Alle Bürger:innen sollen demnach sofort diejenigen anzeigen, die keine „Norm“ gegessen (=erbracht) haben. Sorokin zieht auf eine groteske Weise die Parallele zu den Arbeitsnormen, die ein fester Bestandteil der sozialistischen Planwirtschaft gewesen waren.
Die Nachahmung des sozrealistischen Romans im ersten Teil von “Norma“ ist in der Tat so geschickt, dass selbst die konsumierten Fäkalien ganz natürlich zur konstruierten Realität passen und unter den sowjetischen Realien abgebildet werden – ein Ingenieurstudium, die langweilige Arbeit, das Wodka-Trinken in der Parkanlage und die langen Schlangen vor den Lebensmittelläden und… die „Normen“.
Im zweiten Kapitel wechselt Sorokin zu einem anderen Genre. Auf etwa 50 Seiten beschreibt er ein ganzes Leben mithilfe von nur einem Adjektiv „normal“ in der Kombination mit unterschiedlichen Substantiven. Dieses Kapitel erinnert ein konzeptualistisches Gedicht:
Normale Geburt
Normaler Junge
Normaler Schrei
Normale Atmung
Nach rund 50 Seiten bleibt die Konstruktion im Gedächtnis hängen. Später greift Sorokin auf sozialistische Parolen zurück. In einer neuen Bedeutung erscheinen alte sozialistische Realien amüsant und gleichzeitig verstörend – „Ich habe meine Norm erfüllt!“.
Der sozrealistische Roman stellt für Sorokin in „Norma“ eine Basis dar, die es ihm erlaubt, sich kritisch mit der sowjetischen Realität auseinanderzusetzen. Das vertraute Genre dient hier wie ein Muster, das den:die Leser:in in eine vertraute Situation hineinversetzt. Durch die geschickte Imitation des sozrealistischen Romans gelingt es Sorokin, die Lesenden mit absurden Details zu schockieren und gleichzeitig zu fesseln.
Auf Deutsch sind Sorokins Werke beim KiWi Verlag erhältlich.
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Cover in der Titelgrafik © Corpus Verlag, livelib & ZVAB
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