Die „Knast- und Gulag-Sprache“ im russischen Alltag

Die Sprache verändert sich gemeinsam mit der politischen Ideologie, dem technischen Fortschritt und dem sozialen Umfeld. osTraum berichtete bereits, wie z.B. die „Russenhocke“ aus den JVAs auf die Straße und schließlich auch nach Deutschland und in die globale Pop Culture kam. Auch die russische Sprache wurde von den Realien der Straflager (z.B. der Solovki-GULAG) stark beeinflusst. Sprache ist oft der Spiegel einer Gesellschaft und legt unbewusste weltanschauliche Einstellungen fest. Was passiert also, wenn die zivile Sprache von der Häftlingssprache beeinflusst wird?

UdSSR und Russland – das Land der Gefängnisse (?)

Jahrzehnte lang wurden in der UdSSR Straflager und Gefängnisse für Millionen von Insassen errichtet. GULAG war eine der härtesten Arten von sowjetischen JVAs (Justizvollzugsanstalten). Die „Tradition“ wurde auch in Russland fortgesetzt, auch wenn die Anstalten nicht mehr Gulags heißen. Statistisch ist etwa jede*r fünfte russische Bürger*in vorbestraft. Oft sind es auch politische Gefangene – Menschen, die der aktuellen Regierung nicht passen; Menschen, die Kritik an der Regierung äußern; Menschen, die Gebrauch von der Meinungs-, künstlerischer und Pressefreiheit machen.

Staatliches Museum der Geschichte des GULAG. Foto: Staatliches Museum der Geschichte des GULAG

Das staatliche Museum der Geschichte des GULAG veröffentlichte im Februar 2021 „Das Wörterbuch der russischen Argotismen“ von Leonid Gorodin, d.h. von Wörtern, die aus den GULAGs bzw. JVAs kommen. Nach seiner Freilassung verbrachte der nicht professionelle Sprachwissenschaftler sein ganzes Leben mit der Zusammenstellung dieses Nachschlagewerks. Gorodin war 15 Jahre in Haft. Als er seine Erinnerungen in „Одноэтапники. Невыдуманные рассказы“ („Mitdeportierende. Wahre Geschichten“) bereits in den 1960er Jahren zu Papier brachte, verstand der Repressionsüberlebende, dass er eine spezifische Häftlingssprache in den Texten benutzte:

„Da es sehr viele Lehnwörter in diesen autobiografischen Geschichten gibt, die für den Leser unbekannt sind, habe ich ein kleines Glossar am Ende gemacht. So begann meine lexikografische 20 Jahre lange Arbeit, die meinem Leben einen Sinn gegeben hat“

– schrieb Leonid Gorodin in seinem Kommentar „Über mich. Über das Wörterbuch“.

Maschinengeschriebene Version des Wörterbuchs von Gorodin aus den 1960ern Jahren. Quelle: Staatliches Museum der Geschichte des GULAG. GMIG KP-3692 – 3695

Vor und nach der Haft – eine Autobiografie als Lexikon

Die Versammlung von kurzen Geschichten „Одноэтапники. Невыдуманные рассказы“ wurde erst 2018 als Buch veröffentlicht. Leiter des GULAG-Museums Roman Romanov fand zwei kurze Abschnitte dieser Erinnerungen in einem sozialen Netzwerk. Sofort danach begann die große Recherche des Museum-Teams.

Foto von Leonid Gorodin aus dem Ermittlungsfall von 1950. Quelle: Staatsarchiv der Region Charkiw und Foto von Leonid Gorodin aus dem Ermittlungsverfahren von 1928. Quelle: Zentrales Staatsarchiv der öffentlichen Vereinigungen der Ukraine

„Das Wörterbuch von russischen Argotismen“ besteht aus vier Teilen, auf jeder Seite erklärt der Autor die Bedeutung von ein paar bis 50 Wörtern: insgesamt 17 Tausend. In diesem historisch-literarischen Werk beschäftigt sich Gorodin nicht nur mit den Wörtern, die sich erst in GULAG ergaben, sondern auch mit Dialekten und Jargon. Das passierte, weil die Häftlinge des GULAG aus verschiedenen Regionen kamen und ganz verschiedene soziale Gruppen vorstellten. Die Veröffentlichung seiner Arbeit hatte er zu Lebzeiten nicht geschafft, obwohl das Wörterbuch sehr gut vom berühmten Philologen Dmitri Lichatschow bewertet wurde. Erst 27 Jahre nach dem Gorodins Tod bekamen die russischsprachigen Leser*innen die Möglichkeit, ihren Sprachstil mehr zu reflektieren.

„Viele Fragen ergeben sich sofort, wenn wir die Tatsache betrachten, dass die Sprache unser Bewusstsein und den nationalen Geist bestimmt. Wie beeinflusst uns dieser dunkle Teil der Sprache, der nicht hinter den Lagergittern existiert?“

– kommentieren in der Ausgabe des Wörterbuchs die Mitarbeiter*innen des GULAG-Museums.

Ausstellung „Язык [не]свободы“ („Sprache der [nicht] Freiheit“), die zeitlich mit dem Erscheinen von Gorodins Wörterbuch im staatlichen Museum der Geschichte des GULAG zusammenfällt. Foto: Serafima Telkanova

In dem Wörterbuch befinden sich auch Wörter, denen Bedeutung auf keinen Fall mit der Häftlingssprache assoziiert werden kann. Sehr viele davon klingen wie Wörter der Jugendsprache: Zum Beispiel das Wort „тусовка“ (tußovka) ist fast für jede russischsprachige Person ein Stammtisch oder eine Clique. Dabei kommt dieses Wort aus der Häftlingssprache, wo es eine „Schlägerei“ bedeutet. Noch ein unerwartetes Beispiel ist das Schimpfwort „придурок“ (pridurok). In dem russischsprachigen Raum hat das Wort sehr ähnliche Bedeutung wie den deutschen „Dummkopf“. Ursprünglich wurden Häftlinge so bezeichnet, die keine körperliche Arbeit in einem Lager leisteten.

Die Wörter aus den Gefängnissen im heutigen Russischen

Einige dieser Wörter schaffen es auch allmählich ins Deutsche, z.B. Gopnik (kleiner Dieb) oder Diebe im Gesetz (Dieb aus einer Diebgruppierung, der Gesetzte der kriminellen Welt einhält) in den Lyrics von Kalazh44 oder Obschtschak in den Lyrics von Olexesh. Das Wort Obschtschak hat auch sehr ungewöhnliche Bedeutungen: So konnte ein Korrekturlager – der Lager, wo die Bedingungen ein wenig leichter als in Straf- und Sonderlagern waren, bezeichnet werden. Obschtschak sind auch Sachen, die Diebe von anderen Häftlingen gewaltsam entnahmen.  Auch sogenannte „allgemeine Arbeit“ – besonders schwierige körperliche Arbeit – konnten Gefangenen als Obschtschak bezeichnen. Eine weitere Bedeutung wäre die Gemeinschaftskasse einer kriminellen Vereinigung.

Ausstellung „Язык [не]свободы“ („Sprache der [nicht] Freiheit“), die zeitlich mit dem Erscheinen von Gorodins Wörterbuch im staatlichen Museum der Geschichte des GULAG zusammenfällt. Foto: Serafima Telkanova

In der sowjetischen (und zaristischen) Häftlingssprache gibt es auch viele Wörter aus anderen Sprachen. Die Bedeutung von einigen davon änderte sich kaum. So transformierte der deutsche Schacher hinter dem Gitter in „Schacher-Macher“ – ein Macher von Schachern – mit der ganz gleichen Bedeutung von einem Verbrecher oder Räuber.

Die Häftlingssprache ist nicht die Sprache einer bestimmten Region oder einer Staatsangehörigkeit, auch keiner Sprache eines sozialen Umfelds oder einer konkreten Epoche. Das ist die Sprache der Kriminalität, Repression, die Sprache der Macht und des Machtmissbrauchs. Professor für Philologie an der Freien Universität Gassan Gussejnow betont:

„Die Spezifik der Häftlingssprache ist es, jede mögliche Ausprägung von Persönlichkeit zu unterdrücken und zu zerstören. Ein Häftling konnte als nicht mehr existente Persönlichkeit oder als ein Insekt bezeichnet werden, mit dem viel stärkere Gruppen alles machen konnten, was sie wollten.“


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