LGBTIQ* in Belarus und die Proteste gegen Lukaschenka, Pt. 1

Ende Mai ist Belarus in das kollektive Gedächtnis der Welt zurückgekehrt. Die Entführung der Ryanair-Maschine wirkte wie ein Paukenschlag. Sie sind wieder da, die Bilder von 2020. Es sind die Massen mit weiß-rot-weißen Fahnen. Es ist die aktive Śviatłana Cichanoŭskaja. Es ist natürlich auch das schnurrbärtige Gesicht von Lukaschenka. Was dabei auffällt ist, dass all diese Bilder von Belarus ziemlich heterosexuell sind. Wie positioniert sich die LGBTIQ*Community in Belarus in diesen schweren Zeiten?

In Polen denkt man sofort an Bart Staszewski – einen LGBTIQ*Aktivisten, der sich gegen die zunehmende Homophobie in der polnischen Gesellschaft einsetzt. In Russland wäre das z.B. Igor Kochetkov – der Gründer von dem Russischen LGBT Netzwerk – der einzigen anerkannten LGBTIQ* Organisation in Russland. Für sein Jahrzehnte langes Engagement wurde Kochetkov für den Friedensnobelpreis nominiert. Auch in Belarus setzen sich Aktivist*innen zunehmend für LGBTIQ* Rechte ein.

Von kurzzeitiger Toleranz zur systematischen Verfolgung

Historisch gesehen ist die queere* Geschichte von Belarus aufs engste mit der Sowjetunion verbunden. Nach der Revolution 1918 wurde Sex zwischen Männern legalisiert. Die Sowjetunion war eines der ersten Länder der Welt, die dies tat. Diese gesetzliche Toleranz endete 1933, als Stalin gleichgeschlechtlichen Verkehr zur Straftat erklärte. In Belarus wurde seitdem Homosexualität bei Männern mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft. Erst 1994 wurde gleichgeschlechtlicher Sex legalisiert. Kriminalisierung und Repression durch den Staat verhinderten das Entstehen einer Schwul-lesbischen Gemeinschaft. Der Geheimdienst KGB warb immer wieder schwule Männer durch Erpressung als Agenten an. Durch diese Agenten sollte jede Art von „Community-Building“ verhindert.

Russischsprachige homosexuelle Literaten Michail Kuzmin (li.) und Nikolai Kljuev, die Ende der 1910-er-Anfang der 1920-er Jahre parteinah bis apolitisch waren, aber mit zunehmenden Repressionen gegen LGBTIQ* in die Kritik der kommunistischen Partei gerieten. Kuzmin starb 1936 an einer Lungenentzündung, zwischen 1929 und 1989 wurden seine Werke in der Sowjetunion nicht verlegt. Kljuev wurde 1937 von der NKVD verhaftet und im gleichen Jahr hingerichtet. Laut dem Literaturwissenschaftler und Zeitgenossen Michail Bachtin wurde Kljuev wegen seiner sexuellen Orientierung verhaftet.

UdSSR, Russland und Belarus

Auch gesellschaftlich wurden schwule Männer und lesbische Frauen in der UdSSR diskriminiert. Sie wurden als „individualistisch“ angesehen. In einer sozialistischen Gesellschaft war das ein Stigma. Ein Outing bedeutet nicht nur gesellschaftliche Ächtung, sondern auch den Verlust des Jobs. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vollzog sich ein folgenschwerer Bruch. Dir Kontinuität zwischen Russland und Belarus endeten. Das sollte weitreichende Folgen auch für die LGBTIQ* Community in beiden Ländern haben. In Russland war Boris Jelzin von 1991 bis 1999 Präsident. Von 2000 bis 2004 dauerte die erste Präsidentschaft Vladimir Putins. Die Zeit zwischen 1991 und 2004 kann als eine Phase von Demokratie in Russland angesehen werden. Diese Phase ermöglichte der russischen LGBTIQ*Community den Ausbau von Grundlagen einer Gemeinschaft. Das betrifft vor allem die Sichtbarkeit und die Organisation.

Die lange Phase staatlicher Toleranz von fast 15 Jahren gab es in Belarus nicht. 1994 fand die erste Präsidentschaftswahl statt, die international als unfrei eingestuft wurde. Aliaksandr Lukaschenka wurde Präsident. Eine demokratische „Übergangszeit“, wie in Russland, gab es in Belarus dementsprechend nicht. Somit konnten auch keine Grundlagen der LGBTIQ* Community etabliert werden. Es gibt bis heute keine eingetragene Organisationen, die sich für LGBTIQ* Rechte einsetzen. In Belarus gibt es keine eingetragene Lebenspartnerschaften und keine gleichgeschlechtliche Ehe. Die Ehe ist durch die Verfassung als Verbindung zwischen Mann und Frau geschützt. Es gibt außerdem keinen offiziellen Schutz vor Diskriminierung. All das führt dazu, dass es weiterhin massive Vorurteile in allen Teilen der belarusischen Gesellschaft gegen LGBTIQ* gibt.

August 2020 und Lukaschenkas Propaganda

Die offensichtlich manipulierten Präsidentschaftswahlen lösten im August 2020 Proteste in ganz Belarus aus. Weite Teile der belarusischen Gesellschaft gingen auf die Straße – Frauen, Männer, Kinder und Jugendliche, junge Erwachsene und Rentner*innen. Die Forderung war in erster Linie, die Anerkennung der Wahl von Śviatłana Cichanoŭskaja. Was sich dahinter verbirgt, ist ein Umbau der Gesellschaft und des Staates hin zu einer liberalen Demokratie. Regenbogenflaggen werden aber nicht benutzt. Einer der wahrscheinlichsten Gründe ist die Angst, dass die Fahnen für die Propaganda der Lukaschenka-Regierung ausgenutzt werden. Das Regime könnte behaupten, dass die Regenbogenfahne ein Zeichen für die Einflussnahme des „Westens“ ist, den Homosexualität wird in konservativen Teilen der Gesellschaft als etwas angesehen, das nicht zu Belarus gehört. Die Homosexualität soll angeblich erst durch westliche Einflüsse ins Land gekommen sein.

Die LGBTIQ* Community in Belarus ist eine der unsichtbarsten in ganz Europa. Die anhaltenden Proteste im Land tragen noch nicht zu ihrer Gleichstellung bei. LGBTIQ* kämpfen bei den Protesten nicht als LGBTIQ, sondern als BelarusInnen mit. Bevor sie für ihre Sichtbarkeit und Gleichstellung kämpfen können, braucht es erstmal ein System, in dem Presse-, Meinungs-, künstlerische und Religionsfreiheit gewährleistet sind. Dass die belarusische Community unsichtbar ist, hat vielfältige Gründe. Historisch marginalisiert, gesellschaftlich nicht anerkannt und politisch kriminalisiert. Die Proteste gegen das Regime Lukaschenkas sind für sie eine Chance auf ein System, welches LGBTIQ* Rechtssicherheit ermöglicht. Nur so kann der Kampf für eine sichtbare und selbstbewusste Community in Belarus überhaupt erst beginnen.

Trotz aller Repressionen gibt es immer mehr Queeren Aktivismus und Initiativen in Belarus. Ein paar davon werden demnächst im Artikel “LGBTIQ* IN BELARUS UND DIE PROTESTE GEGEN LUKASCHENKA, Pt. 2” vorgestellt.


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