osTraum hat bereits über die russische “Subkultur” Gopniki und die Russenhocke geschrieben und schon damals festgestellt, ein Beitrag dazu reicht nicht. Viele deutschsprachige Erklärungen im Internet sind wahr, beschreiben jedoch nur die Ausbreitung des Phänomens und erklären die Ursprünge der Körperstellung nur im Ansatz:
“Man macht das in Russland ja, wenn man beispielsweise auf dem Feld gearbeitet oder anderswo hart geackert hat und einfach nur chillen will. Bevor ich stehen muss oder mich auf die dreckige Straße setze, hocke ich mich lieber hin.
Mit Vergnügen Hamburg mit dem Betreiber der Facebook-Seite Russenhocke David Schmidt
[…]
Macht es dir nichts, dass die Ursprünge der Russenhocke mit Kriminalität und Jugendarbeitslosigkeit [= Gopniki] zu tun haben?
In Deutschland weiß das eigentlich niemand, deshalb hat es eine komplett andere Bedeutung hier, es wird parodiert und man nimmt es nicht so ganz ernst. Abwertend finde ich daran nichts. ”

Russischer Schriftsteller & Schauspieler Wassili Schukschin spielt im Film Kalina krasnaja (de.: Roter Holunder) (1985) einen ehemaligen Gefängnisinsassen, der eine Resozialisierung anstrebt, doch immer wieder Opfer seiner inneren Konflikte wird – zwischen den Verständnissen des Gefängnisses und den Realien der freien Welt.
Russenhocke VS. Rap Squat
Davids Erklärung ist logisch. Mit Vergnügen versucht noch die true story hinter der Sitzposition zu hinterfragen, doch bei dem Versuch bleibt es auch. Bianca Xenia Mayer vom bento ist dagegen gelungen, die Erscheinung globaler zu betrachten und sie in einen breiten kulturwissenschaftlichen Kontext zu setzen. Die Parallelen zum Rap Squat sind nicht zu übersehen. Die US-Rap Hocke gibt es seit den 1980-er Jahren und sie weist deutliche Unterschiede zur Russenhocke auf – z.B. bleiben in Russland angeblich die Fersen auf dem Boden.
Die Erklärungen sind legitim und die bento-Version schlägt sogar eine Brücke zum US-Gangsta Rap, wo es lediglich unabhängig von der Russenhocke entstanden ist. In einer Sache sind aber die USA und Russland vereint – bei den praktizierenden Menschen handelt es sich oft um Vertreter*innen von sozial benachteiligten Schichten der Gesellschaft. Es sind oft (klein-)kriminelle junge Menschen, hauptsächlich Männer.
Wo kommt also die Russenhocke her?

Gefängnisinsassen beim Transport [Quelle]
Zu sagen “alle Russen machen das”, “alle Gopniki machen das” oder gar “alle Slawen mach das” (Slav squat) ist falsch. Der Ursprung hat weder was mit der harten Arbeit in der Landwirtschaft noch mit der Jugendarbeitslosigkeit zu tun. Die “Russenhocke” kommt aus den russischen Gefängnissen und hat mindestens zwei Bedeutungen bzw. Ursachen:
- Die Gefängniswärter*innen bringen die Insassen in diese Lage, damit die Letzteren nicht spontan und schnell handeln können. So lässt sich die Situation auf den Höfen und in anderen Räumlichkeiten der JVAs einfacher regulieren. Es ist aber natürlich nicht die einzige erlaubte Körperposition.
- Das Leben in den russischen Gefängnissen hat seine eigenen ungeschriebenen Regeln – по-понятиям (po-ponjatijam, de.: nach dem Verständnis). Nach dem “Verständnis” der kriminellen Welt darf man z.B. nichts vom Boden aufheben. Alles, was auf dem Boden war, ist dreckig und hat keinen Wert mehr. Bei wenigen Ausnahmen, z.B. wenn es um eine neue noch verpackte Schachtel Zigaretten geht, dürfte man sich in die Hocke setzen und die Zigaretten aufheben. Hier tritt eine andere Regel in Kraft – man darf sich weder beugen noch bücken, denn diese beiden Bewegungen können auf zwei Weisen gedeutet werden. 1) Verbeugung bzw. sich bücken als Zeichen der Unterwürfigkeit. Die ausführende Person kann so zu einem Diener oder gar Sklaven in der Gefängnis-Hierarchie werden. 2) Verbeugung bzw. sich bücken als Outing eines homosexuellen Mannes, der beim Geschlechtsverkehr die passive Rolle einnimmt.
So wurde die Hocke zu einer der wenigen sozial und persönlich sicheren Körperpositionen in russischen Gefängnissen.
Fast jeder 5. war im Gefängnis

Alltag in einem sowjetischen Gefängnis. Ein Umkleideraum. Ein Mann sitzend mit einer Ferse nicht am Boden. [Quelle]
Im Jahr 1950 waren in der Sowjetunion über 2,7 Millionen Menschen in Haft – ca. 1,5 % der Bevölkerung [Quelle]. Zum Vergleich – 2017 wurden in Russland über 700 000 Menschen verurteilt – 700 K in 1 Jahr! Im Jahr 2007 waren fast 19 % der Bevölkerung Russlands vorbestraft – das ist jede*r Fünfte [Quelle]. Da so viele Menschen in Russland die harte “Schule” der Gefängnisse durchlaufen sind, haben sich viele der kriminellen Verständnisse (rus.: ponjatija) auch in der zivilen Gesellschaft eingebürgert. Die Hocke ist eins der meist verbreitetsten. Nun hat sie es auch nach West-Europa geschafft, wo es zu einem Meme geworden ist. Ist es wirklich lustig?
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