Der Sowjetische Modernismus in Odessa: Eine Architekturreise in die verlorene Zeit

Die Architektur des sowjetischen Modernismus war ambitiös, frei und einzigartig. Fast drei Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion stößt dieses Architekturphänomen auf weltweites Interesse. Angefangen von großen Projekten wie „Socialist Modernism“ der B.A.C.U. Initiative und dem Fotoband von Frédéric Chaubin „СССР – Cosmic Communist Constructions Photographed“ hin zu den privaten Instagram-Accounts wie „Soviet Artefacts“. Eine neue Perspektive auf das Thema bieten Online-Ressourcen, die sich durch einen speziellen Fokus hervorheben und das weniger Bekannte zeigen. Der Kanal odessamodernism ist genau solch ein Fall. Der Autor der Seite widmet sich ausschließlich seiner Stadt Odessa in der Ukraine und demonstriert, welche Schätze der sowjetischen Moderne sich in der Architektur von Odessa (noch) finden lassen. osTraum sprach mit dem Gründer von odessamodernism über den sowjetischen Modernismus in Odessa.

Sowjetische Architektur – ein Politikum?

osTraum: Was war der Anfang deines Instagram-Kanals, der sich ausschließlich der sowjetischen Architektur, dem sowjetischen Modernismus in Odessa widmet. Woher kommt dein Interesse an diesem Thema?

odessamodernism: In irgendeinem Moment begann ich zu merken, dass in der Stadt nicht nur die klassische Architektur des 19. Jahrhunderts präsent ist und dass es außer des historischen Zentrums in Odessa auch noch Randbezirke gibt, die im 20. Jahrhundert gebaut wurden. Und schließlich, vieles für die Architektur und die Infrastruktur war genau während der sowjetischen Periode gemacht. Aufgrund der negativen Assoziationen mit der Sowjetunion war auch die sowjetische Architektur mit diesem Negativen beschattet. Für mich hat die Architektur allerdings keine Schuld daran, das sind ja nur Steine, Metalle, Holz.

Aufgrund der negativen Assoziationen mit der Sowjetunion war auch die sowjetische Architektur mit diesem Negativen beschattet. Für mich hat die Architektur allerdings keine Schuld daran, das sind ja nur Steine, Metalle, Holz.

V.l.n.r.: Das Kulturhaus und das Heilbad im Sanatorium „Kujalnik“.

osTraum: Wie sieht der Prozess der Suche nach Architekturobjekten für odessamodernism aus? Wie suchst du nach Informationen über die Gebäude und Mosaiken?

odessamodernism: Die Kultstätten, Kinos, Theater, Fabriken, Betriebe, Parks, monumentale Relikte der Geschichte – das sind alles die Architekturobjekte des sowjetischen Erbes. Es genügt, einfach nach ihren Koordinaten auf der Stadtkarte zu schauen und einen Spaziergang zu machen, zu schauen, was noch geblieben ist, über die Geschichte ihres Baus zu lesen, wenn solche vorhanden ist. Einige Daten finden sich auf dem Odessa Forum.

osTraum: Gibt es ein besonders bedeutendes und für den sowjetischen Modernismus symbolisches Architekturobjekt in Odessa?

odessamodernism: Das Theater der musikalischen Komödie in Odessa. Die Autoren des Gebäudes sind der Architekt aus Odessa Henrich Topus und andere. Da das Gebäude relativ jung ist, es ist erst 40 Jahre alt, die Außenfassade und die Inneneinrichtung sind sehr gut erhalten. In meinen Augen ist der bedeutendste Vertreter des Modernismus in der Architektur der Stadt.

Das Theater der musikalischen Komödie in Odessa.

Die Sowjetische Moderne in odessa: Die Architektur ohne zukunft?

osTraum: In welchem Zustand befinden sich die Architekturobjekte, die du fotografierst? Gibt es eine gemeinsame Tendenz: Absolut verwahrlost / ihren ursprünglichen Zweck verloren / zum Teil renoviert?

odessamodernism: Der sowjetische Modernismus in Odessa hat keine Zukunft. All diese Objekte werden ihre Existenz innerhalb von den nächsten zehn Jahren beenden. Sie werden entweder total vernichtet oder umgebaut. Das ist die gemeinsame Tendenz in unserer Stadt.

Sollte Instagram selbst noch existieren, wird diese Seite [osTraum: der Instagram-Kanal odessamodernism] selbst zu einem Architekturdenkmal aus der Serie „Odessa, die wir verloren haben“ werden.

Der sowjetische Modernismus in Odessa hat keine Zukunft. All diese Objekte werden ihre Existenz innerhalb der nächsten 10 Jahre beenden.

osTraum: Auf den ersten Blick scheint es, dass der Fokus des Kanals ausschließlich auf Odessa ziemlich eingeschränkt ist. Hattest du noch nicht solch einen Moment erlebt, wo du dachtest: Alles ist bereits abgelichtet und gezeigt – ich muss jetzt das Themenspektrum erweitern?

odessamodernism: Odessa ist eine kleine Stadt. Früher oder später wird der Content zu Ende sein. Dann wird auch das Ende der Geschichte meines Kanals kommen. Aber sein Ziel war ja genau das – die Architektur-Lücken zu füllen und eine fotografische Grundlage für alle Interessierte zu erschaffen.

Ich habe nicht vor, das Themenspektrum auszuweiten. Es gibt bereits hunderte Kanäle, hunderte Seiten, die ziemlich hochwertigen Content zum Thema Modernismus haben. Ich sehe keinen Sinn, mit ihnen zu konkurrieren und das Rad neu zu erfinden. Vielleicht werde ich noch ein neues Thema finden, das mich inspiriert und die Geschichte des Modernismus im Ganzen ergänzt. Man*frau muss den Content schaffen, der das Thema fortsetzt und nicht nachahmt.

Das Interieur im Kulturhaus und in der Poliklinik im Sanatorium Kujalnik.

Die Beliebtheit des sowjetischen Modernismus – eine nostalgische Angelegenheit?

osTraum: Der sowjetische Modernismus in der Architektur ist aktuell ziemlich beliebt. Was denkst du, warum? Nostalgie? Oder etwas Anderes?

odessamodernism: Der sowjetische Modernisms ist beliebt aufgrund der Kühnheit seiner Projekte, ihrer Ausmaße und ihrer Ideologie. Trotz der finanziellen Ausgaben war die Hauptaufgabe, ein einzigartiges Architekturobjekt zu konstruieren. In der kapitalistischen Gesellschaft kann keiner sich solch teure und kühne Projekte leisten. Die endlos langweiligen Neubauten der Gegenwart haben sich als noch schrecklicher entpuppt, als die, die in den 80ern in der Sowjetunion gebaut wurden.

Die endlos langweiligen Neubauten der Gegenwart haben sich als noch schrecklicher entpuppt, als die, die in den 80ern in der Sowjetunion gebaut wurden.

Das ist irgendwie auch ironisch: Wir haben über die sowjetischen Häuserblöcke und Platten, über das dämliche Design gelacht, aber im 21. Jahrhundert hat man*frau begonnen, die Häuserblöcke und Gebäude zu bauen, die noch schlimmer als die sowjetischen aussehen. Also auf jeden Fall passiert es so in meiner Stadt. Vielleicht werden einige Leute, die das verstehen, ihre Aufmerksamkeit auf das Erbe des sowjetischen Modernismus in der Architektur und im Design richten.

Die Aussichtsplattform „Rotunda“ am Strand in Arkadien.

osTraum: Können wir über eine Community der Fotograf*innen auf Instagram sprechen, die sich auf der sowjetischen Architektur spezialisiert haben? Welche Kanäle gefallen dir besonders? Könntest du uns deine Top 5 nennen?

odessamodernism: Child_of_socialism – Elvira, die sehr schönen Content macht. Das inspiriert. Vielen Dank ihr. Ukrainianmosaicssovietinnerness, soviet_artefacts, socmonumentalart.



Alle Bilder © odessamodernism

Auf dem Titelbild: Der Saal im Haus der Kultur des Sanatoriums „Kujalnik“.

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