Auf der Suche nach sowjetischen Artefakten

Sowjetische Artefakte – was ist das? Auf dem Instagram-Kanal „Soviet Artefacts“ zeigen Wladimir und Swetlana die wunderschönen sowjetischen Mosaiken und andere Objekte der sowjetischen Monumentalkunst. Im Interview mit Wladimir Ilnitskij erfuhr osTraum, wie „Soviet Artefacts“ entstanden ist, was Murmansk, Leningrad und Chișinău gemeinsam haben und wie man*frau die Mosaiken in der unbekannten postsowjetischen Stadt findet.

Zwischen Murmansk, Leningrad und Chișinău

osTraum: „Soviet Artefacts“ – solch ein Name für einen Instagram-Kanal ruft gleich eine Menge Assoziationen hervor. Was sind für Sie die „Sowjetischen Artefakte“?

Soviet Artefacts: Für uns sind das in erster Rolle Objekte der Monumentalkunst wie Mosaiken, Sgraffito, Glasmalerei, Malerei, Prägungen, Reliefen und Skulpturen, die zwischen den 1922 und 1991 Jahren entstanden sind. Das ist eine große Kulturschicht, die unabhängig von politischen Sympathien und Antipathien zum Sozialismus und Kommunismus nicht ignoriert werden kann.

Tiraspol, Transnistrien

Abgesehen von der Monumentalkunst sammeln wir weiterhin sowjetische handgemalte Schriften auf den Straßenschildern, Gedenktäfeln und sogar in den Überschriften der Druckerzeugnisse. Sehr bewusst projizieren wir keinesfalls unsere eigenen Bewertungen des politischen Regimes der UdSSR und fokussieren uns nur auf der visuellen Substanz der sowjetischen Artefakte. Die visuelle Ästhetik der vergangenen Epoche pur.

osTraum: Nach dem ersten Blick in die Bio des Kanals hatte ich gleich die folgende Frage: Warum genau diese drei Städte – Murmansk, Leningrad und Chișinău?

Soviet Artefacts: Alles ist sehr einfach – in diesen drei Städten habe ich den größten Teil meines Lebens verbracht. In der geschlossenen Militärstadt Seweromorsk (die Hauptstadt der Nordmarine, 20 km von Murmansk entfernt) habe ich 32 Jahre gelebt; in Bender (Transnistrien, 60 km von Chișinău entfernt) mache ich fast jeden Sommer Urlaub – das ist für mich der Ort, wo ich Kraft tanke und Inspiration hole; nach Leningrad (ich würde mir erlauben, diese Stadt in diesem Interview genau so zu nennen 🙂 bin ich im Sommer 2018 zum Wohnen und Arbeiten umgezogen und bin sehr froh über alle Veränderungen in meinem Leben, die mit diesem Fakt zusammenhängen.

Wladimir Ilnitskij

So gesehen beschreiben aktuell diese drei Städte die Geographie der meisten auf dem Kanal gezeigten sowjetischen Artefakte. Natürlich werden diese geographischen Horizonte langsam erweitert: Diesen Frühling haben wir sehr viele interessante Aufnahmen in Abchasien gemacht.

Sowjetische Mosaiken – Leidenschaft pur

osTraum: Wie lange beschäftigen Sie sich bereits mit Ihrem Instagram-Kanal und was war die Motivation, ihn überhaupt zu starten?

Soviet Artefacts: Der Instagram-Kanal @soviet_artefacts führen wir bereits etwas länger als ein Jahr – wir haben ihn am 9. September 2018 gestartet. Ursprünglich habe ich auf meinem privaten Profil die Fotos von meinem Fahrrad mit sowjetischen Mosaiken im Hintergrund gepostet, die ich ausschließlich mit meinem Handy während der Fahrradtouren durch Moldawien aufgenommen habe.

Als Motivation diente der Vorschlag meiner Freundin und gleichzeitig der Co-Autorin des Projekts „Sowjetische Artefakte“ Swetlana Netschajewa, den separaten Kanal @soviet_artefacts anzufangen. Wir haben uns entschlossen, Äpfeln von Birnen zu trennen, und lagen damit richtig. 🙂 Swetlana ist eine ausgezeichnete Ideengeberin und Inspiratorin in unserem Bunde.

osTraum: Die Fotos auf der Seite „Soviet Artefacts“ – sind das alles Ihre Fotos oder kooperieren Sie auch mit anderen Fotograf*innen und Kanälen? Wie finden Sie Mosaiken und wie klappt es, die Fotos aus so vielen unterschiedlichen Orten zu machen? 

Soviet Artefacts: Aktuell sind alle Fotos auf dem Kanal von uns. Wir gehen sehr sorgfältig damit um, wie wir das Material rüberbringen. Wir nehmen die Objekte mit der professionellen Spiegelreflexkamera aus unterschiedlichen Perspektiven auf, inklusive Nahaufnahmen der Fragmente.

Kurtschatow, Russland

Bei Bedarf und Möglichkeit machen wir Fotos mehrmals, auch unter besseren Bedingungen (mit der optimalen Beleuchtung und ohne Pflanzen, die das Objekt verdecken), bearbeiten Fotos, schneiden Fragmente für die Veröffentlichung mit der Berücksichtigung der Komposition aus. Wir gehen in die Bibliotheken, recherchieren in den alten Büchern über die sowjetische Monumentalkunst nach den Titeln und Autor*innen der von uns publizierten Arbeiten.

In den Stories veröffentlichen wir jedoch thematische Fotos von unseren Abonnent*innen und anderen Kanälen sowie Fotos aus den Büchern, darunter mit den Objekten, die nicht mehr existieren. Die Begeisterung von sowjetischen Artefakten hat mich so in Besitz genommen, dass ich jetzt in alle Dienstreisen und privaten Reisen meine Kamera immer mitnehme und mir eine Liste mit Adressen für die Fotoshootings noch vor der Reise erstelle.

Was die Suche nach Mosaiken in unbekannten Städten angeht, haben wir für uns bereits eine erprobte Methode gefunden: In erster Rolle untersuchen wir die Kulturpaläste, Schulen, Kindergärten und Fabriken. Am häufigsten wurden vor allem diese Objekte mit Mosaiken geschmückt.

osTraum: Aus welchen Ländern der Sowjetunion stammen überwiegend Ihre Fotos? Gibt es noch „weiße Flecken“, die Orte, wohin Sie sehr gern reisen würden, um Ihre Fotosammlung zu erweitern?

Soviet Artefacts: Das meiste Material stammt aus Moldawien und Transnistrien – Bender, Chișinău; aus Russland – Leningrad, Sosnowy Bor, Kurtschatow, Kursk, Kaliningrad, Krasnodar, Rostow-na-Donu sowie aus der Republik Abchasien – Sochumi, Nowy Afon, Gagra, Pizunda.

Es gibt sehr viele „weiße Flecken“! Auf die Mosaiken und sonstige sowjetische Artefakte trifft man*frau heute praktisch in allen Städten und Dörfern der ehemaligen UdSSR.

Puschkin, Russland

Vielleicht würde sogar das ganze Leben nicht ausreichen, sie alle abzulichten. Sehr gerne würde ich mit der Mosaikexpedition nach Georgien, Armenien, Kasachstan, Belarus und in die Ukraine reisen. Und vielleicht klingt das komisch, aber ich würde auch mal wieder nach Murmansk fahren, um dort das zu fotografieren, was ich noch nicht geschafft habe. 🙂

Mosaiken – der heiße Trend?

osTraum: Der Hauptfokus des Kanals sind ja die Mosaiken. Warum ausgerechnet Mosaik und z.B. nicht die sowjetische Architektur?

Soviet Artefacts: Ich war noch seit meiner Kindheit von den bunten Motiven aus der Vergangenheit umgeben. Allerdings habe ich den Mosaiken früher keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Nur erst als ich 30 wurde, war das Interesse wieder da und jetzt kann ich es nicht mehr aufhalten. Die Mosaik ist ein Phänomen der sowjetischen Epoche, das wir untersuchen. Leider wird diese Technik aufgrund der hohen Kosten und fehlenden Aufträgen seitens der Regierung nicht mehr angewendet.

Bzypta, Abchasien

Übrigens lieben wir auch die sowjetische Architektur und haben den Instagram-Kanal @geometry_of_form, wo tolle Beispiele des sowjetischen Modernismus in unseren Fotos gezeigt werden.

osTraum: In den sowjetischen Mosaiken gibt es häufig bestimmte Themen (zum Beispiel Kosmos, Wissenschaft etc.), die sich in unterschiedlichen Formen wiederfinden. Haben Sie darunter Lieblingsmotive oder im Gegenteil solche Motive, die Sie nicht besonders mögen?

Soviet Artefacts: Wir sind sehr fasziniert von den Mosaiken mit Nationaltraditionen, in erster Rolle von moldauischen. Da ist was Besonderes dran. Wir sind weiterhin dabei, unsere Abonnent*innen mit dem exklusiven Material aus den Tiefen Moldawiens zu erfreuen, wo tolle Moldauerinnen in prachtvollen Kleidern mit Ornamenten, Haushaltsgegenstände und Weintrauben gezeigt werden. 😉 

Bender, Moldawien

osTraum: Wer ist Ihr Publikum auf Instagram? Könnte man*frau sagen, dass sich für „Soviet Artefacts“ eher Menschen aus dem postsowjetischen Raum interessieren?

Soviet Artefacts: Unser Publikum sind Designer*innen von unterschiedlichen Fächern (von Interieurdesigner*innen hin zu Schriftdesigner*innen), Maler*innen, Illustrator*innen, Kunstwissenschaftler*innen, Geschichtswissenschaftler*innen, Mosaikkünstler*innen, Glasmaler*innen, Architekt*innen, Graffiti-Künstler*innen (denn Mosaik ist auf eigene Art „sowjetische Graffiti“) und einfach die Liebhaber*innen der sowjetischen Ästhetik.

Den Instagram-Kanal @soviet_artefacts machen wir extra für Designer*innen – wir freuen und inspirieren sie mit der Geometrie, den besonderen Beschaffenheiten, Farbenkombinationen und Kompositionen.  

Chișinău, Moldawien

Ich würde nicht sagen, dass sich für das Thema eher Menschen aus dem postsowjetischen Raum interessieren. Das ist sogar umgekehrt: In der letzten Zeit kommen immer häufiger Abonnent*innen, die nicht aus den Ländern der ehemaligen UdSSR stammen.

Vielleicht hat es sich dadurch so ergeben, da wir den Kanal auf Englisch führen. Außerdem sind für eine*n postsowjetische*n Bürger*in all diese Mosaiken die Alltäglichkeit, er*sie bemerkt sie in der Routine des grauen Alltags nicht. Für Abonnent*innen aus dem Ausland sind die Mosaiken dagegen etwas Ungewöhnliches.

osTraum: In den letzten Jahren merkt man*frau besonders großes Interesse an den sowjetischen Mosaiken unter jungen Menschen, die meisten von denen haben die UdSSR gar nicht miterlebt. Was denken Sie, woher kommt dieses Interesse?

Soviet Artefacts: Das ist die Kunst, die unerbittlich aus den Städten verschwindet, und für die es in unserer Zeit keinen Ersatz gibt. Ich glaube, genau dies erklärt das Interesse. Das ist etwas Entgleitendes, Ephemeres und Schönes. Außerdem propagierten die meisten Arbeiten bestimmte Ideale der lichten Zukunft, in die der einfache sowjetische Mensch so sicher geblickt hat. Auch diese Romantik, die in unserem modernen Staat sehr stark fehlt, besticht den*die junge*n, moderne*n Zuschauer*in.

Sankt Petersburg, Russland

Mosaiken – nur ein Hobby?

osTraum: Auf welchen Plattformen außer Instagram veröffentlichen Sie noch Ihre Fotos? Gibt es auch Pläne, etwas außerhalb der sozialen Netzwerke zu tun?

Soviet Artefacts: Seit dem 16. Oktober 2015 führe ich den gleichnamigen Kanal im sozialen Netzwerk vkontakte vk.com/soviet_artefacts, wo ich außer meinem eigenen Material auch noch viele Fotos unserer Abonnent*innen veröffentliche. Am 14. August 2019 haben wir die Seite fb.com/sovietartefacts auf Facebook gestartet. In erster Rolle für mich selbst, aber auch für alle Interessierte habe ich am 7. September 2019 noch einen wissenswerten öffentlichen Kanal auf Telegram t.me/soviet_artefacts eröffnet, dort veröffentliche ich sowjetische Artefakte mit Geodaten.

Wir haben auch langsam angefangen, außerhalb der sozialen Netzwerke was zu tun – verpasst nicht unsere News! 😉

osTraum: Soviet Artefacts – ist das ein Hobby, das sehr eng mit Ihrer beruflichen Tätigkeit zusammenhängt? Erzählen Sie etwas über sich!

Soviet Artefacts: Genau, das ist ein Hobby, das mit meiner beruflichen Tätigkeit verbunden ist. Ich heiße Wladimir Ilnitskij, bin 34 Jahre alt, der Gründer und Art Director des Grafikdesign-Studios Value (valuestudio.net, @valuestudio). Wir machen exklusive Logos, Corporate Designs sowie Websites für die Kunden aus der ganzen Welt.

Design und Grafik haben mich seit der Schule fasziniert, und Design ist heute meine Lieblingsarbeit. Mit sehr viel Spaß kreiere ich jetzt von Null an coole Buchstaben für Logos. Ursprünglich hat unter allen sowjetischen Artefakten genau die sowjetische handgemalte Schrift mein Interesse geweckt, und erst später hat sich der Fokus auf die Mosaik verschoben.

Kaliningrad, Russland

osTraum: Zum Schluss kommt natürlich DIE Frage: Welche Instagram-Kanäle gefallen euch? Können Sie unseren Leser*innen Kanäle mit einer ähnlichen Thematik wie Soviet Artefacts empfehlen?

Soviet Artefacts: Klar, mit viel Vergügen möchten wir mit euch diese 9 Kanäle über die sowjetische Mosaik teilen, die uns faszinieren und inspirieren:



Alle Bilder © soviet_artefacts / Wladimir Ilnitskij

Auf dem Titelbild: Die Mosaik aus Sochumi, Abchasien


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