Unter dem Motto „Decolonizing the (Post-) Soviet Screen“ stand das diesjährige GoEast Filmfestival in Wiesbaden. Das GoEast hat dieses Jahr einen besonderen Rahmen für autonome Filmkulturen jenseits der postsowjetischen (russischen) Mehrheitsgesellschaft geschaffen. Bei dem “Rheinmain Kurzfilmpreis” wurden sieben Kurzfilme präsentiert, die allesamt von Filmemacher*innen aus marginalisierten postsowjetischen Regionen und Ländern stammen. Wesentliche Intention im Schaffen der filmischen Arbeiten ist das Streben nach einer Überwindung der Zuschreibung einer “postsowjetischen Kultur”, in welcher die nicht-russischen Bevölkerungsgruppen oft ethnischer Diskriminierung und Rassismus ausgesetzt sind. Beim “Rheinmain Kurzfilmpreis” wurde ein Versuch unternommen, ihre Lebensrealitäten sichtbar zu machen. Zwischen Umweltkatastrophen und kolonial-repressiven Strukturen bis in die Gegenwart, zwischen Queerness und der Suche nach Akzeptanz, zwischen futuristischen Visionen und einer Kritik an der pathologischen Rückbesinnung auf einen sozialrealistischen Heldenpathos bewegen sich die sieben Kurzfilme, die auf ihre eigene, individuelle Art und Weise ihre jeweiligen Themen und Konflikte audiovisuell kommunizieren.
ARALKUM (UZB 2022 / 14 min / Kasachisch / Regie: Daniel Asadi Faezi, Mila Zhluktenko)

Sequenzen mit Menschen, ausgestopften Tieren und historischen Aufnahmen aus der Blütezeit der Fischerdörfer um den Aralsee wechseln sich rhythmisch und sanft ab. Die Bilder erzeugen ein dystopisches Narrativ. ARALKUM gibt Einblicke in das ländliche Leben am Aralsee. Die Tragödie der Austrocknung des Aralsees wird dabei auf einer eindrucksvollen Weise vergegenwärtigt. Das menschliche, profitorientierte und rücksichtslose Verhalten verwandelte den See in eine giftige Wüste, die in etwa die Fläche Bayerns misst. Die Vernichtung der florierenden Landschaft entzog auch vielen Einheimischen die Lebensgrundlage. Der Lebensraum, der von Fischerei als einem ökonomischen Garanten für den Handel geprägt war und die Basis der lokalen Subsistenzwirtschaft bildete, wurde unwiderruflich zerstört.
ARALKUM offenbart die Realität: Die Rücksichtslosigkeit menschlichen Handelns und der menschengemachte Klimawandel betreffen primär marginalisierte Bevölkerungsgruppen, welche medial keine nur selten zu Wort kommen und wenn, werden sie nur von wenigen gehört. ARALKUM aber macht auf das Schicksal dieser Menschen aufmerksam.
NEITHER ON THE MOUNTAIN NOR IN THE FIELD (KGZ 2022 / 16 min / Kirgisisch / Regie: Gulzat Egemberdieva)

NEITHER ON THE MOUNTAIN NOR IN THE FIELD porträtiert einzelne kirgisische Schicksale und den Zusammenhalt von losen Kultursegmenten untereinander, basierend auf einer gemeinsamen kirgisischen Identität. Neustädtische-Skylines in Kanada, ländliche Landschaften und Telefongespräche auf Kirgisisch als verbindendes Element, montiert mit Archivmaterial der nomadischen Bevölkerung und Fotografien von Ritualen. Die ästhetische Zerrissenheit führt die Zuschauer*innen in die komplexe Geschichte der kirgisischen Bevölkerung zur Zeit als Kolonie der Sowjetunion ein. Bis heute hat die Kolonialisierung weitreichende Folgen: Trennung von Familien und Unterdrückung der eigenen Identität, Diskriminierung, Fremdherrschaft und Willkür, die von der fortlebenden postsowjetisch-großrussischen Idee ausgeht.
Der Film ist ein Porträt einer modernen Gesellschaft und ihrem Bestreben nach Freiheit in Anbetracht der kolonialen Vergangenheit.
KHAYT (UKR 2021 / 8 min / Ukrainisch / Regie: Sashko Protyah)

KHAYT ist ein Kurzfilm eines Kollektivs ukrainischer Videokünstler*innen unter der Regie von Sashko Protyah. Die ukrainische Hafen- und Industriestadt Mariupol – auch bekannt für das Metallurgische Kombinat Asow-Stahl – bildet dabei das geografische Zentrum der Geschehens. Begleitet vom experimentellen Techno-Sound und Sequenzen aus dem Archiv einer Tanzgruppe aus der griechischen Minderheit am Asowschen Meer werden so die multikulturellen und multiplen historischen Einflüsse sowie die multiethnische Geschichte Mariupols portraitiert. Die postsowjetisch-russische Mehrheitskultur wird dabei zu einer Randerscheinung. Das Kollektiv ukrainischer Videokünstler*innen kreiert eine audiovisuelle Vision eines lebendigen und diversen Mariupols in den 2040er Jahren. Ein futuristisch-experimenteller Kurzfilm, der die kulturelle Komplexität Mariupols aufzeigen will und gleichzeitig ein visionäres Experiment wagt.
Der Film wurde 2021 gedreht, kurz bevor Mariupol nach der russischen Invasion nahezu dem Erdboden gleichgemacht wurde. Die Zahl der Einwohner*innen sank von 500.000 auf unter 100.000 Menschen. Nach verschiedenen Angaben wurden hier 2022 bis zu 87.000 Menschen von russischen Soldaten ermordet.
TALE (ERTAK / UZB 2022 / 12 min / Usbekisch / Regie: Kamila Rustambekova)

Der Kurzfilm TALE der usbekischen Fotografin und Regisseurin Kamila Rustambekova (die osTraum bereits interviewt hat) behandelt die Geschichte einer verbotenen Zuneigung zweier junger Männer im ländlichen Usbekistan und den Versuch des Ausbruchs aus jenen repressiven Sphären. Gleichzeitig thematisiert es die Aufopferung der Mutter, welche die Trennung mit ihrem Sohn trotz grenzenloser Liebe eingeht um ihm ein glückliches, freieres Leben ohne Verfolgung zu ermöglichen. Der Kurzfilm begleitet die beiden jungen Männer bei ihren Spaziergängen in der idyllischen, ländlichen Region Usbekistans. Beide Gesichter bleiben den Zuschauer:innen verborgen, da die Offenbarung der Identität der Schauspieler ernsthafte Folgen für diese hätte. Trotz der repressiven Realität ist Kamila Rustambekovas Bildsprache sinnlich und zart. Bei den Zuschauer*innen evoziert sie ein Gefühl sinnlicher Intimität. Implizierte Sinnlichkeit statt explizite Sexualität, ein filmischer Gestus, der Raum für Assoziationen und Fantasien lässt. Der Künstlerin ist es gelungen, ein leichtes und zartes Werk über ein sehr schwieriges Thema zu erschaffen.
NO NATION WITHOUT CULTURE (RU-CE 2022 / 17 min / Russisch / Regie: Vladlena Sandu)

NO NATION WITHOUT CULTURE wurde in Tschetscheniens Hauptstadt Grozny gefilmt. Die Filmemacherin Vladelna Sandu kehrt an den Ort zurück, wo sich das Haus ihres Großvaters befindet, in dem sie aufgewachsen ist. Doch heimlich und hinter verdunkelten Autofensterscheiben fängt sie auch mit der Kamera die Omnipräsenz der monumentalen Porträts der Diktatoren Putin und Kadyrow ein. An jeder Fassade öffentlicher Gebäude – ob Kindergarten, Grundschule, Rathaus, Konzertsaal – überall sind die Herrscherporträts in Großformat im Stadtbild zu finden. Prominent, dominant, allgegenwärtig. Diese Aufnahmen versiehet Vladlena Sandu mit schriftlichen Kommentaren und Archivmaterialien, die Propagandaszenen im sozialrealistischen Pathos der Glorifizierung Lenins und Stalins zeigen. Reale und aktuelle Szenen der Indoktrinierung sind es, die die Kinder im Grundschulalter in Militäruniform und mit Maschinengewehren posierend zeigen. Bereits in diesem Alter sollen die Kinder dem sogenannten „Westen“ den Krieg erklären und die Überlegenheit Russlands beschwören. Sandu filmisches Werk thematisiert die groteske Absurdität und offenbart die Dimension der putinschen Ideologie.
Vladlena Sandu hat mit NO NATION WITHOUT CULTURE den diesjährigen RheinMain Kurzfilmpreis gewonnen:
„Mit klaren und präzisen Bildern bringt die Regisseurin beeindruckende Beobachtungen aus einer Stadt, die man fast vergessen hat, in die Welt – und macht damit die Zerstörung der Seele einer Kultur sichtbar. Ein hochaktueller Schrei aus einer zum Schweigen gebrachten Gesellschaft.“
Die Jury des RheinMain Kurzfilmpreises
AITAL (RU-SA 2021 / 22 min / Jakutisch / Regie: Vladimir Munkuev)

In Vladimir Munkuevs Kurzfilm AITAL verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und einer übernatürlichen Welt zwischen Moderne und Relikten einer vergangenen Zeit. Der Protagonist hat von seinen Vorfahren jakutischer Abstammung das gewisse Etwas bekommen, dass ihm die Aura eines Schamanen oder eines Wunderheilers verleiht. Er lebt in einer modernen Stadt, doch sein gesamtes Auftreten erinnert an die Vergangenheit seiner Familie, an die Vergangenheit eines ganzen Volkes. Eine Tragödie lässt ihn eines Tages merken, dass er wohl doch im Besitz übersinnlicher Kräfte ist. Ein geheimnisvoller Einblick in die Seele eines Außenseiters und eine audiovisuelle Aufarbeitung des Gefühls, aufgrund ethnischer Zugehörigkeit durch die russifizierte Mehrheitsgesellschaft als ein Anderer signifiziert zu sein.
EXULTATION (RU-KL 2022 / 17 min / Russisch / Regie: Arslan Manasyan)

Eindrucksvolle Kinematographie trifft auf stilistisch hochwertige Montage. In Arslan Manasyans EXULTATION verfolgen die Zuschauer*innen im Stile eines Dokumentarfilms die Geschichte eines gewaltsamen Augenblicks im Leben der Protagonist*in – einer androgynen Person.
Der Handlungsort Kalmykien ist einer der wenigen überwiegend buddhistisch geprägten Regionen Europas im südlichen Teil Russlands. EXULTATION ist eine Hommage an die spirituelle Besinnung und den Glauben an Selbstfindung entgegen externer Repression und Fremdherrschaft.
Diskriminierung als Gewohnheit vs. kulturelle Emanzipation
Die im Rahmen des RheinMain Kurzfilmpreis nominierten Kurzfilme haben den im sogenannten Westen dominierenden Blick und das prägende Bild der weißen, mehrheitsgesellschaftlichen, russischsprachigen Sowjetunion und postsowjetischer Länder negiert und mit dem Zeugnis von komplexen, multiethnischen und sich kulturell emanzipierenden Gebieten ersetzt. Doch es gibt weiterhin Unterdrückung, Diskriminierung und koloniale Praktiken, die direkt von Russland ausgehen oder eine Gewohnheit aus der sowjetischen Zeit sind. Jeder Kurzfilm entfaltet auf seine eigene Art und Weise die historische Komplexität und die gegenwärtigen Lebensrealitäten der jeweiligen Ethnie. Unter dem Motto „Decolonize the (Post-)Soviet Screen“ haben Lebensrealitäten, Sorgen und Visionen von indigenen und marginalisierten Bevölkerungsgruppen dieses Jahr in Wiesbaden eine Leinwand, ein Publikum und Reichweite erhalten. Doch wann der visuellen Dekolonisierung eine endgültige, reale Dekolonisierung folgen kann, bleibt fraglich. Solange sollten sich Institutionen und Kultureinrichtungen bemühen, eben jenen Menschen eine Stimme zu geben, die medial keine starke Stimme haben und von Unterdrückung, Repression und Diskriminierung betroffen sind. Das GoEast Festival ist es in ihrer 23. Ausgabe gelungen, eben dies zu ermöglichen.
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Titelbild: Collage der Redaktion mit einer Aufnahme aus No Nation Without Culture (Vladlena Sandu)