Metropolen des Ostens

Metropolen des Ostens – hinter diesem klingenden Titel verbergen sich zehn Städteporträts, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Die von Angela Huber und Erik Martin 2021 herausgegebene Sammlung geht auf eine Ringvorlesung (Winter 2019/2020) der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und der Universität Potsdam zurück. Die Essays handeln von Städten, deren Bedeutung teils weit über die Dimensionen bloßer nationaler Grenzen ausgreift. Ihre Straßen, Bauwerke und Erinnerungen der dort lebenden Menschen erzählen von der Vergangenheit, in der multikulturelles Nebeneinander, wie auch kosmopolitisches Miteinander existierten. Aber auch die Zeiten, in denen sich unvorstellbares Leid und Gräuel im kollektiven Gedächtnis manifestierte, werden in den Essays thematisiert. Die Autor*innen gewähren den Lesenden teils sehr persönliche, teils auch überraschende Zugänge zu den ausgewählten Metropolen, was die Lektüre abwechslungsreich und kurzweilig, aber dennoch tiefgründig erscheinen lässt.

So nähert sich Jurko Prochasko der Stadt Lviv (dt. Lemberg) durch ihre geografische sowie kulturelle Umgebung an, den Raum, der die Stadt umgibt. Mehr als die Stadt selbst beschreibt er die Bevölkerungsgruppen, die Länder, Regionen und vergangenen Reiche, die Ereignisse, die das Erscheinungsbild von Lviv bis zum Zeitpunkt der Niederschrift geprägt haben. Mit bitterem Beigeschmack muss an dieser Stelle ergänzt werden, dass Lviv und seine Bewohner*innen, wenngleich bisher weniger als andere ukrainische Gebiete, trotz allem auch seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022 von Angriffen betroffen sind.

Ebenso verhält es sich mit Odessa, das von Guido Hausmann als eine kosmopolitische Handelsstadt porträtiert wird und dessen Geschichte er anhand verschiedener Familien aufrollt, die die Handelsgeschichte wie auch das soziale und kulturelle Leben der Stadt mitprägten. Kosmopolitisch war Odessa auch durch die große jüdische Gemeinde, die florieren konnte, bis deren Existenz zum Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend durch Pogrome gefährdet wurde. Ob das Zentrum der Stadt, der alte Stadtraum Odessas aus dem 19. Jahrhundert, der sich „trotz Kriegsschäden und Bausünden nach 1991 […], bis heute weitgehend ergehen und erahnen“ ließ, auch nach dem russischen Angriffskrieg derart vorzufinden sein wird, ist leider fraglich. Erst am 4. April 2023 wurde die strategisch wichtige Stadt, die noch immer einen der wichtigsten Handelshäfen der Region besitzt, von russischen Drohnen attackiert.

Einen sehr persönlichen Zugang zur polnischen Hauptstadt Warschau hat Sylwia Chutnik gewählt. Im Mittelpunkt steht ihre Beziehung zur Stadt, welche Emotionen sie in der Autorin weckt und wie sie sich Warschau zu eigen macht, um darüber zu schreiben. Chutnik lässt die Leser*innen mit ihren Augen durch Warschau ziehen und an ihren Reflektionen teilhaben über eine Stadt, in der…

…wir zwischen der in den Alltag, in die Stadttopografie eingesunkenen Geschichte manövrieren müssen. Einer Geschichte, die trunken vor Verzweiflung ist und sich an diese Wände, Bürgersteige und Tore hysterisch klammert. Ist es eine Profanisierung der Geschichte, so sorglos einkaufen zu gehen auf einem vor Blut triefenden Markt? Nein. Denn wir leben.

Sylwia Chutnik, Metropolen des Ostens, S. 36

Ingeborg Baldauf entfaltet ihre Geschichte der kasachischen Hauptstadt anhand ihrer vielfältigen Benennungen. Von Quara Ötkel, der „Schwarzen Furt“, zu Akmolinsk, der „Weißen Grabstätte“; von Zelinograd, der Neustadt zu Aqmola; von Astana, der „Türschwelle, an der die Besucher ihr Haupt beugen“ zu Nur-Sultan, benannt nach dem langjährigen Präsidenten Nursultan Nasarbajew (im September 2022 wurde gar erneut ein verfassungsänderndes Dekret vom jetzigen Präsidenten Tokajew unterzeichnet, mit dem die Hauptstadt erneut in Astana umbenannt werden soll). Baldauf porträtiert die Etappen von Astanas Anfängen als Warenumschlagplatz der viehzüchtenden Kasach*innen der Mittleren Horde bis zur Entstehung des „hyperreale[n] Astana“ unserer Gegenwart, das mit seiner markanten Architektur und den symbolisch aufgeladenen Bauwerken den Anspruch geltend macht, in den Rang anderer Weltstädte aufgenommen zu werden.

Artur Klinau öffnet den Theatervorhang und gewährt uns einen Einblick in die Vorstellung des Stücks „Die Gesellschaft des Glücks“, deren Schauplatz die belarusische Hauptstadt Minsk verkörpert, die „Sonnenstadt“, die „Stadt der Utopie“ für den „idealen Menschen“. So sehr sein Porträt auf großen Strecken Ironie durchscheinen lässt, so wahrhaftig erscheint seine Traurigkeit darüber, dass die Idee des Kommunismus ursprünglich tatsächlich eine Gesellschaft des Glücks angestrebt hatte:

Bedauerlicherweise versuchte sie sich jedoch in derartig pervertierter Gestalt auf dem Territorium des Sowjetimperiums selbst zu verwirklichen. Die Sonnenstadt hier, an der früheren Westgrenze, ist vor allem anderen ein Denkmal für die romantischen Träume der Menschheit von einer gerechten Weltordnung.

Artur Klinau, Metropolen des Ostens, S. 80

Jörn Happel führt durch die Geschichte Kasans, „Russlands dritte[r] Hauptstadt“ und „Metropole zwischen Europa und Asien“, deren Name aus dem alttürkischen „Großer Kessel“ bedeutet. Der Name ist Programm, war Kasan doch stets ein ‚melting pot‘ von verschiedenen Volksgruppen, Sprachen und Religionen. Happel beleuchtet die Rolle der Stadt innerhalb der Geschichte des Imperiums und lässt zahlreiche Stimmen zu Wort kommen, die die Stadt im Laufe der Zeit bereisten, ob Alexander von Humboldt, Alexander Herzen, Joseph Roth oder Katharina die Große.

Zaal Andronikashvili wählt als Zugang zur georgischen Hauptstadt Tbilissi die Musik, die Geräuschkulisse. Es geht ihm „um den Klang, den Sound der Stadt, seine mündliche Kultur und seine Musik.“ 

Der Klang von Tbilissi, früher auch Tiflis genannt, war polyphon.

Zaal Andronikashvili, Metropolen des Ostens, S. 123

Er versteht Tbilissi als „Kosmopolis„, in der die Polyphonie nicht der Kampf zwischen Eigenem und Fremden sei, nicht ein Nebeneinander sondern ein Miteinander der Sprachen, Konfessionen und Kulturen, die das Wesen der Stadt ausmachten.

…ein wiederkehrendes Moment, das viele Metropolen des Ostens auszeichnet. So auch das ukrainische Czernowitz, dessen Abfolge unterschiedlicher Herrschaftssysteme – ob habsburgisch, rumänisch, sowjetisch, ukrainisch – Steffen Höhne anhand ihrer jeweiligen Denkmalpolitik nachzeichnet. Im Mittelpunkt seines Essays stehen „weniger historische Entwicklungen und Ereignisse, sondern die öffentlichkeitswirksamen erinnerungskulturellen Aneignungen und Praktiken und deren Transformationen im Verlauf der Stadtgeschichte.

Vilnius, die Hauptstadt Litauens wartet im Porträt Joachim Taubers mit zahlreichen bedeutsamen Zuschreibungen auf: „kulturelles Zentrum des östlichen Judentums“, „Jerusalem des Nordens“, mit der ältesten Universität Osteuropas, ein „Handelszentrum zwischen Ost und West“. Wichtiger Faktor in der Erinnerungskultur ist das einstige Großreich, das Großfürstentum Polen-Litauen, das zeitweise von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Zahlreiche Herrschaftswechsel hinterließen ihre Spuren in der Stadt an der Neris und machten sie zur „Schnittstelle der Kulturen und Ethnien“.

Man kann die Geschichte von Vilnius nicht erzählen, ohne sich zu vergegenwärtigen, dass es sich eigentlich um viele Städte handelt, von denen die Rede ist.“

Joachim Tauber, Metropolen des Ostens, S. 151

Clemens Günther und Torben Philipp stellen das Erdöl in den Mittelpunkt ihres Porträts der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Welche Rolle es im Verlauf der 1920er innerhalb der kulturellen kreativen Szene des Kaukasus gespielt hat, wie sich die Rezeption des Erdöls wandelt, von Energiemetapher, über die mythologische Verklärung des sowjetischen Öls, von der Heroisierung der Arbeiter zur Glorifizierung des Öl-Ingenieurs, von den Topoi „Schmutz“, „Hölle“ und den „archaischen Zuständen“ in Baku hin zu einem „gereinigten“ Ideal industrieller Kultur, von der sozialrealistischen „Verkitschung von Arbeit, Stadt und Natur“ bis zu literarischen und filmischen Verarbeitungen der Erdölindustrie – in den Worten der Autoren: Eine „Petropoetik von der Avantgarde zum Tauwetter“.

Die Essaysammlung ist im Verlag edition.fotoTAPETA in sehr ansprechender Weise, grafisch wie haptisch, erschienen. Ihm gilt auch mein Dank für die Bereitstellung des Bandes.


Metropolen des Ostens

Zehn Essays

edition.fotoTAPETA 2021


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Abbildung: Buchcover © edition.fotoTAPETA

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