Der Klub toter Autor:innen ist das Programm im Hause Guggolz. 2013 gründete Sebastian Guggolz, der zu dem Zeitpunkt bereits kein Unbekannter in der Verlagswelt Berlins gewesen ist, seinen eigenen Verlag – den Guggolz Verlag. Sein Ziel war und ist es bis heute, Autor:innen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wiederzubeleben; die Stimmen einer Zeit, in der so manch ein Werk in den unzähligen Tragödien und Umstürzen untergegangen ist, wieder erklingen zu lassen; Autor:innen bekannter zu machen, die außerhalb ihrer Herkunftsländer vielleicht noch nie gehört wurden, deren Werke aber das volle Potenzial für den nächsten “Krieg und Frieden” oder die “Buddenbrooks” hatten und haben; Perspektiven auf das 20. Jahrhundert zu zeigen, die für die Deutschlesenden ganz neu sein können – Perspektiven aus Nordeuropa und dem osTraum. Es geht um färöische und mazedonische, isländische und litauische, norwegische und tschechische, estnische und belarusische Perspektiven und um noch viel mehr.
Das osTraum Journal hat bereits zwei Veröffentlichungen aus dem Hause Guggolz besprochen, die mehr Einblicke in die Literaturen Europas geben: “Quecke” von Petre M. Andreevski (aus dem Mazedonischen von Benjamin Langer) und “Apoll Besobrasow” von Boris Poplawski (aus dem Russischen von Olga Radetzkaja). Nun haben wir Sebastian Guggolz drei Fragen gestellt, die uns schon immer interessiert haben. Viel Freude bei unserem Interview!
Eigentlich ist fast jede Sprache, abgesehen von Englisch, Französisch, Italienisch, schmerzhaft unterrepräsentiert auf unserem Buchmarkt. Genau dieses Defizit ist ja auch einer der Grundimpulse meiner Verlagsgründung, weil ich diesen Lücken füllen will.
osTraum: Nach welchem Buch haben Sie am längsten gesucht und wie waren Ihre Gefühle, als Sie es endlich in den Händen hielten?
Sebastian Guggolz: Ich habe gerade, im Zuge der Bearbeitung des Bandes II der Prischwin-Tagebücher, nach einer Ausgabe der phänomenalen Zeitschriften »UdSSR im Bau« gesucht. Die ist in den 1930er Jahren herausgekommen, bestand aus Foto/Text-Kombinationen verschiedener Art, manchmal literarisch, manchmal eher dokumentarisch. Die Nummer 10 hat Prischwin bestückt, mit Geschichten und auch einigen Fotos. Die wollte ich unbedingt haben, da sie auch ästhetisch herausragend ist: Alexander Rodtschenko zeichnete für die wirklich grandiose Gesamtgestaltung der Publikationsreihe verantwortlich. Nun habe ich die sehr seltene (und deshalb auch teure) Ausgabe bei einem Schweizer Händler bekommen und freue mich heute noch jedes Mal, wenn ich allein das wunderbare Cover mit der Fotografie eines Nerzfells sehe. Es hat was von Überwältigung, wenn man nach langem Ersehnen ein solches Objekt in Händen hält. Wenn ich einen Autor oder eine Autorin im Verlagsprogramm habe, sammle ich immer die früheren deutschen Ausgaben. Das gleicht oft mal einer Jagd mit tiefer Befriedigung, wenn ich eine seltene, lange vergriffene alte Ausgabe dann in Händen halte.
osTraum: Was sind aus Ihrer Sicht die drei Länder, die in Deutschland literarisch unterrepräsentiert sind? Warum müssen deutschlesende Menschen mehr über die Literatur aus den Ländern erfahren?
Sebastian Guggolz: Oh, drei ist bei weitem nicht genug! Eigentlich ist fast jede Sprache, abgesehen von Englisch, Französisch, Italienisch, schmerzhaft unterrepräsentiert auf unserem Buchmarkt. Genau dieses Defizit ist ja auch einer der Grundimpulse meiner Verlagsgründung, weil ich diesen Lücken füllen will. Die wirklich nicht mehr zeitgemäße (natürlich eigentlich nie zeitgemäß gewesene) überhebliche Einteilung in »große« und »kleine« Sprachen müssen wir unbedingt überwinden. Warum soll der große, bewusstseinsumstürzende Roman nicht auf Lettisch geschrieben sein? Oder auf Bulgarisch? Warum soll ich mich nicht genau in einer auf Färöisch beschriebenen menschlichen Empfindung voll und ganz erkannt finden, oder auf Slowakisch, Bosnisch, Ukrainisch? Das ist doch ganz offensichtlich, sobald man sich der Frage nur mit einem einzigen Gedanken widmet. Wir müssen so viel wie möglich in so vielen Sprachen wie möglich wahrnehmen, denn je mehr wir ausblenden, desto mehr entgeht uns auch.

osTraum: Eine besonders aktuelle Frage im Kontext von Postkolonialismus, sexuellen Übergriffen und grenzwertigen politischen Ansichten: Sollten literarische Werke unabhängig von ihren Autor:innen betrachtet, gelesen und interpretiert werden? Oder ist es vor allem bei lebenden Autor:innen der Gegenwart nicht möglich, weil ihr Leben und Wirken oft an sich ein Gesamtprojekt darstellt?
Sebastian Guggolz: Die Frage ist eigentlich zu groß und zu komplex für eine einfache Antwort. Aber die Tendenz, unliebsame Meinungen und Personen ausschließen zu wollen, halte ich für grundfalsch. Man muss sie einordnen, ihnen widersprechen, sie richtigstellen, wenn man sie für falsch hält. Aber sie auszuschließen oder gar zu verbieten? Das kann nicht der richtige Weg sein (es sei denn natürlich, sie verstoßen gegen geltendes Recht). Und andererseits können Werke, so sehr man es sich wünscht, eigentlich nicht ohne ihre Urheber verstanden werden. Man muss wissen, aus welcher Position und Perspektive geschrieben wird. Und die Vorstellung, »objektiv« Kunst schaffen zu können, war mir schon im Literaturstudium suspekt. Es besteht ein komplexes Wechselverhältnis zwischen Kunst und Leben, das beim einen Autor deutlicher, bei der anderen Autorin versteckter ausgestaltet ist. Aber genau die Unterschiede machen gerade die Besonderheiten aus! Und ein Schlusssatz vielleicht noch zur nachträglichen Bearbeitung, ja »Entschärfung« bestimmter Begriffe und Texte: Das halte ich nicht nur für moralisch unzulässig, es verkauft mich als Leser auch für dumm, wenn es mir nicht zutraut, auch anders als einfach nur identifikatorisch lesen zu können. Natürlich war das Frauenbild, der Blick auf Menschen anderen Glaubens, anderer Hautfarbe oder Herkunft im 19. Jahrhundert zum Beispiel ein von unserem heutigen verschiedener – und auch heute prägen der Ort, an dem man lebt, das politische System, die Sozialisierung oder der religiöse Hintergrund unsere Weltwahrnehmung. Aber gerade das macht die Lektüre ja so interessant! Wenn Lesen eine Form von Denken ist, dann muss es auch frei sein – ich bin nicht bereit, dahinter zurückzugehen.
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Fotos in der Titelgrafik © Guggolz Verlag / Nils Stelte
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