Über viele Umwege hat osTraum Sasha Hain kennengelernt. 2019 erzählte uns Masha Alyokhina (Pussy Riot) bei den Osteuropa Tagen Berlin über moloko plus. Als wir uns auf das Interview mit moloko plus vorbereitet haben, haben wir für uns Sashas Insta entdeckt – sie ist ein aktives Mitglied des Almanachs und wirkt als Künstlerin bei vielen Publikationen des Formats mit. Dann folgte die gemeinsame Einladung (Osteuropa Tage Berlin 2020 + osTraum) von Sasha zu der Online-Ausstellung femenisexfetish. Wir fanden, dass die paar Fragen, die bei der Ausstellung beantwortet werden zu wenig sind. Wir wollten mehr über Sasha erfahren und haben ihr selbst mit ihr unterhalten.
Viel Spaß bei unserem Interview mit der womöglich ersten vegan-Tätowiererin Russlands.
osTraum: Erinnerst du dich an den Moment, als du zum ersten Mal bewusst ein Tattoo gesehen hast? Wie hast du dich gespürt? Was waren deine Eindrücke?
Sasha Hain: Bewusst – wahrscheinlich mit 18 Jahren, als ich mich zum ersten Mal für Tattoo als eine Kunstrichtung interessiert habe. Ich war bei Tumbler auf dem Account des Tätowierers Maxim Büchi.
Unbewusst – höchstwahrscheinlich als Kind als ich ein Tattoo auf der Haut eines ehemaligen Gefangenen gesehen haben. Ich bin in einer Stadt geboren und aufgewachsen, die auf dem Gelände eines ehemaligen GULAG-Lagers errichtet wurde. Dessen alte Gebäude wurden später in gewöhnliche Gefängnisse umgewandelt, sodass viele Menschen in unserer Stadt lebten die “daraus” kamen.
Diese kulturellen Phänomene stehen sich natürlich diametral gegenüber, obwohl sie das gleiche Medium haben – Haut und Farbe. Es war aber nicht das, was mich anzog. Als ich auf Tumbler gesurft habe, fand ich es voll spannend, dass man mit Hilfe dieser Medien buchstäblich alles darstellen kann und die Stilrichtungen nicht auf die bereits erfundenen beschränkt sind und man sich etwas Eigenes einfallen lassen kann.
Im Allgemeinen hat mir die Tatsache gefallen, dass im Tattoo-Bereich noch nicht alles erfunden wurde, dass es kein Stil gibt, der wieder und immer wieder wiederholt wird, wie zum Beispiel in der Malerei.
Ich bin in einer Stadt geboren und aufgewachsen, die auf dem Gelände eines ehemaligen GULAG-Lagers errichtet wurde.
osTraum: Wann hast du dir dein erstes Tattoo stechen lassen? Wer hat gemacht?
Sasha Hain: Es war eine Tätowierung mit Sigmund Freud. Dmitry Zakharov aus Nischni Nowgorod hat es gemacht. Ich war 20 Jahre alt und habe mich sehr bewusst für den Meister entschieden. Ich bin extra in eine andere Stadt gefahren. Lange Zeit konnte ich mich nicht entscheiden, was ich mir stechen lassen sollte, aber ich liebe alle möglichen auffälligen Dinge – sofort erkennbar und mit verschiedenen Bedeutungsebenen.
Als ich Freuds Briefe gelesen habe, glaube ich, fand ich es total lustig, wie er seinen Kollegen in Geschäftskorrespondenz in einer aggressiv-passiven Art geantwortet hat. Ich dachte, es würde Spaß machen, Freud auf vielen Ebenen u begreifen und ihn stechen zu lassen.
Ich weiß auch, was für ein schrecklicher Sexist er aus heutiger Sicht gewesen ist und wie fortgeschritten er für seine Zeit zu sein schien, und ich mag diese Zweideutigkeit. Sie erinnert mich daran, dass die Dinge im Leben nicht simple sind. Und natürlich auch, dass wir aus niemandem Idole machen sollten.
osTraum: Sollte ein Tattoo immer eine tiefe Bedeutung für den Menschen haben oder ist es auch in Ordnung, aus einem Katalog oder dem Internet ein Motiv zu wählen?
Sasha Hain: Ernsthaft kann ich diese Frage nicht beantworten … wie ernst kann man über überhaupt über die Bedeutung und Wiederholungen in der postmodernen Welt sprechen?! Persönlich ist mir das ganz egal, aber aus Gründen der Arbeitsmoral mache ich keine Werke mehrfach, obwohl es einige Ausnahmen gab. Dies wurde aber im Voraus mit allen Beteiligten abgesprochen. Über die Bedeutung für den Träger – ein mal habe ich eine Briefmarke gegessen und habe mir währenddessen alle meine Tattoos angeschaut und mir wurde völlig klar, dass jegliche Bedeutung ein Unsinn ist! Alles bedeutet für jeden doch etwas – sowohl für mich als auch für meine Kund*innen.




osTraum: Was ist ein schlechtes oder misslungenes Tattoo?
Sasha Hain: Misslungen ist ein Tattoo, wenn die Person, die es auf der Haut trägt, es nicht mag. Wenn es mir nicht gefällt, ist es nur ein Teil meiner Entwicklung und meines kreativen Weges. Dies geschieht natürlich, weil jeder eine andere Wahrnehmung hat. Für gewöhnlich halten die Leute technisch schlecht gestochene und/oder schlecht geheilte Tätowierungen für “misslungen” und bitten mich dann meistens, die Tätowierungen zu retuschieren.
Oft werden solche Tattoos von eine*r Freund*in oder eine*m Freund* gestochen, die es zum ersten Mal in ihrem Leben aus Spaß oder zum Üben machen. Niemand mag es, Tattoos anderer Meister zu retuschieren bzw. alte Tattoos überzustechen. Ich mag es auch nicht – das ist sehr einschränkend, es gibt wenig Spielraum, was getan werden kann, man muss viel anpassen. Die beste Option ist meistens, einfach nur alles mit Schwarz zu übermalen.


osTraum: Du machst ausschließlich ethische Tätowierungen. Das bedeutet, dass alle Farben nichts mit Tieren oder Insekten zu tun haben. Sie wurden nicht an Tieren getestet und sind frei von Knochenpulver, Gelatine, Wachs oder anderen tierischen Bestandteilen. Was sollten wir noch über ethisches und unethisches Tätowieren wissen?
Sasha Hain: Alle Flüssigkeiten, Cremes und Gele, die vor, während und nach dem Tätowieren verwendet werden, können Bestandteile tierischen Ursprungs haben. Die Menschen kennen sich normalerweise mit Farben aus, aber oft weiß keiner etwas über den Rest. Mittlerweile ist selbst das Transparentpapier oft nicht vegan. Die wenigen Meister*innen, die ich persönlich in Russland kenne, die sich als ethisch positionieren, wissen darüber Bescheid. Über all die anderen bin ich mir unsicher.
gesetzlich werden alle Haushaltschemikalien in unserem Land an Tieren getestet
Mit einem bekannten Tätowierer von mir habe ich mal darüber diskutiert, ob ein Tattoo in Russland überhaupt als ethisch angesehen werden kann, denn gesetzlich werden alle Haushaltschemikalien in unserem Land an Tieren getestet und es ist unmöglich, ein Tattoo zu stechen. Tätowierer*innen brauchen eben immer Haushaltschemikalien um Werkzeug und Arbeitsplatz sauber zu halten.
Wenn es also für dich als Kund*in wichtig ist, dass alles vegan ist, ist es im Allgemeinen das beste, ein Foto von allem anzufordern, was dein*e Meister*in während der Arbeit verwendet, und jeden Namen zu googeln. Im Internet rät man dazu „deine eigenen Dinge mitzubringen“. Aber anstelle von „normalen“ nicht-veganen Meister*innen würde mich solch eine Anfrage nur verärgern – ich würde mich weigern, mit mir unbekannten Flüssigkeiten zu arbeiten. Aber ich kann nicht für andere sprechen.


osTraum: Wann ist in Russland, Ukraine und Belarus das Konzept entstanden, dass ein Tattoo auch ethisch sein kann?
Sasha Hain: In diesen Ländern gibt es eher wenige vegane Tätowierer*innen… auf Social Media sehe ich es sehr selten, dass Menschen über vegane Tätowierungen schreiben, aber es gibt eine ganze Website darüber und alle Arten von Communities in sozialen Netzwerken, in denen Menschen Kontakte von ethischen Meister*innen teilen.
es scheint mir, dass ich eine der ersten in Russland war, die sich als eine vegane Tätowiererin bezeichnete
Der Trend besteht also definitiv und es gibt immer mehr solcher Menschen und auch das Publikum wächst. Ich will nichts falsches sagen, aber es scheint mir, dass ich eine der ersten in Russland war, die sich als eine vegane Tätowiererin bezeichnete. Es war vor etwa 3-4 Jahren. Ich hatte das noch nie zuvor bei anderen gesehen, wobei meine Tätowierungen von Anfang an vegan waren.
Das heißt, alle 6 Jahre meiner Praxis hatte ich die Idee, habe es aber nur 3 Jahre später irgendwie öffentlich angesprochen. Etwa zur gleichen Zeit bemerkte ich dann einzelne Meister*innen, die auf ihrer Website dasselbe geschrieben haben. Vielleicht war es auch eine Baader-Meinhof-Illusion und es begann in Russland alles viel früher.
osTraum: GIbt es Motive, die du nie stechen würdest?
Sasha Hain: Alle rechten Symbole. Alle “mehrdeutigen” Symbole, wie solare oder ethnische Muster oder Runen. Alles, was mit einer Religion zu tun hat (wenn es keine Ironie ist, aber auch in diesem Fall werde ich mich darauf einlassen). Menschen, die zu mir kommen, machen keinen Test von politischen Ansichten oder so was. Höchstwahrscheinlich habe ich mehr als ein Dutzend Tätowierungen für Menschen gemacht, mit denen ich selbst in den grundlegendsten Lebensvorstellungen nicht einverstanden wäre, aber ich denke mir – solange mir eine Person weder verbal noch öffentlich über Social Media etwas zeigt oder sagt, dass “rechts” ist, dann geht es meine Arbeit nichts an. Übrigens werde ich in meinen Sitzungen, in denen ich regelmäßig alle möglichen Dinge über Feminismus und Veganismus erzähle, oft danach gefragt, einschließlich der Menschen, die mir in diesen Dingen zunächst nicht zustimmen. Vielleicht mache ich ja die Welt während solcher Unterhaltungen etwas mehr links.


osTraum: In vielen Ländern der ehemaligen Sowjetunion gibt es das Vorurteil, dass Tattoos nur Menschen haben können, die im Gefängnis oder in der Armee waren. Hat sich da etwas verändert?
Die meisten Länder der ehemaligen UdSSR leben unterhalb der Armutsgrenze und Tätowierungen gehören nicht zu Interessen vieler Menschen
Sasha Hain: Die meisten Länder der ehemaligen UdSSR leben unterhalb der Armutsgrenze und Tätowierungen gehören nicht zu Interessen vieler Menschen oder zu ihren Lebensbedürfnissen. Außerhalb der großen Städte assoziieren Menschen Tätowierungen mit dem Gefängnis – das stimmt. Jedes Jahr gibt es zwar weniger Stigmatisierung, aber in Moskau, Kyiv oder Minsk kannst du auf offener Straße verbal angefeindet werden, wenn du ein Tattoo hast. Das kommt aber eher selten vor. Unter meinen Kund*innen sind Menschen verschiedener Berufe und unterschiedlichen Alters, obwohl sie meistens in “seriösen” Jobs immer noch gebeten werden, Tätowierungen unter ihrer Kleidung zu verstecken, soweit ich den Trend von außen verfolgen kann.
osTraum: Seit einigen Jahren setzt sich außerhalb der ehemaligen UdSSR der Trend russischer Kriminellen-Tätowierungen durch. In London wird beispielsweise eine Enzyklopädie solcher Tätowierungen herausgegeben, in der Schweiz werden durchsichtige Langarmshirts mit solchen Motiven deigned. Was denkst du über diese Mode?
Sasha Hain: Darüber kann ich viel erzählen, weil ich viel über dieses Phänomen im Kontext moderner Tendenzen nachgedacht habe. Es kommt immer öfter vor, dass sich Menschen durch Symbole rechter oder anderer radikalisierter Subkulturen darstellen. Als in Russland lebende Person nehme ich natürlich A.U.E. [АУЕ: Арестантско-уркаганское единство; EGU: Einsitzenden- und Gaunerunion ODER Арестантский уклад един; EEK – Der einheitliche Einsitzendenkodex (Anm. der Redaktion)] als Subkultur wahr. Ich habe sogar Parallelen zwischen einigen dieser Symbole mit denen gezogen, über die Solschenizyn im “Der Archipel Gulag” geschrieben hat und dem, was wir heute in der modernen Kultur beobachten. Meist gibt es jedoch eher sprachliche Ähnlichkeiten, aber dennoch gibt es sie. Es ist interessant für mich, Mode zu beobachten, weil es interessant ist zu verstehen, wohin diese Revolte gegen die Normalität oder vielmehr ihre Iteration in unserer Generation führt.

osTraum: Wie bist du zum Tattoo gekommen? War das dein “Traumberuf”?
Sasha Hain: Ich habe seit meiner Kindheit gezeichnet und geknetet und ich wollte nie etwas anderes als diese beiden Dinge tun. Ich habe mit dem Tätowieren angefangen, weil es für mich eine Möglichkeit ist, auf Menschen zu zeichnen und meine Zeichnungen sogar live von Person zu Person zu präsentieren. Es ist wie eine endlose Ausstellung. Eine Ausstellung ist Kommunikation und Kommunikation ist wichtig.
osTraum: Gibt es für dich einen Unterschied zwischen Kunst und Handwerk im Kontext der Tätowierung?
Sasha Hain: Ich lehne das Wort “Kunst” als Gegenteil des Wortes “Handwerk” ab. Und auch im Allgemeinen als Gegenteil zu allem Profanen. Also, Nein!
osTraum: Es gibt ein Stereotyp, dass die Tattoo-Mode ständig mit unterschiedlichen Motiven einhergeht und es gibt auch Pausen zwischen den einzelnen Modewellen. Stimmt es?
Sasha Hain: Vielmehr wird in bestimmten Momenten eine bestimmte Richtung von Tattoos modisch, so dass auch Menschen außerhalb der Tattoo-Szene etwas davon mitbekommen. Viele neue Stile entstehen auch vor allem aufgrund von ständiger Entwicklung der Technologie – neue und sehr hochwertige Maschinen, Nadeln, Farben und alles andere war dann auch hier vorhanden. Natürlich schulte das Internet das auge eines durchschnittlichen Kunden, aber auch eines Meisters. Das beeinflusste Wünsche und Fähigkeit, mehr zu erfinden und zu entwickeln – es war für neue Richtungen im Tattoo entscheidend.
osTraum: Hörst du Musik bei der Arbeit?
Sasha Hain: Ich arbeite ohne Musik … mit Musik zittere ich oder bin wie ein Chihuahua auf Kaffee am Ende der Sitzung. Oder Musik wird einfach nur langweilig. Was ich am meisten liebe, während der Sitzungen einfach nur zu reden. Oder wir hören uns Podcasts oder Vorträge an. Jedoch frage ich immer, wie es für die Kund*innen lieber ist und nur sehr selten wollen Menschen tatsächlich Musik hören.


osTraum: Erinnerst du dich an die 1990er? Würdest du dem Bild über die “wilden 90-er” in der ehemaligen Sowjetunion zustimmen?
Sasha Hain: Ich wurde 1994 geboren, daher erinnere ich mich nur noch an Spielzeuge in den 1990-ern. Nun, ich erinnere mich aber auch daran, wie Jelzin im Fernsehen „wegging“ und an ein Glas voll mit sowjetischen Rubeln bei meiner Großmutter zuhause. Mit diesem Geld habe ich „Einkaufen“ gespielt. In meiner Heimatstadt passierte nicht sonderlich viel. So waren auch die einzigen Subkulturen bei uns Gopniks und Alkoholiker – die waren für mich vertrauter als irgendwelche anderen Subkulturen. Ich liebe aber Filme von Balabanov.
Im Allgemeinen scheint es mir, dass die 90er Jahre in Russland immer noch heiß diskutiert werden, weil es das erste und letzte Mal seit 100 Jahren gewesen ist, dass wir Freiheit und Perspektiven hatten. Die Menschen hatten das Gefühl, dass sie jetzt etwas beeinflussen und ihr Leben radikal verändern können. Der erste und letzte Atemzug eines Lebens in einem langwierigen und machtlosen Widerstand gegen die Diktatur. Für mich geht es daher eher um die Reflexion verpasster Gelegenheiten, aber ich war ein Kind und erinnere mich eigentlich an nichts. Ich argumentiere also eher abstrakt, denn mit den „Geist“ der 90er bin ich selbst gar nicht in Berührung gekommen.
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Alle Bilder © Sasha Hain
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