Text: Iga Nowicz
In Berlin geht alles. Auch mal bei Pierogi & Barszcz über Frauenrechte zu sprechen. Dabei auch die großen Begriffe Demokratie und Feminismus in den Mund zu nehmen.
„Central and Eastern Europe: Masculine (un)democratic reality & future?“ lautete das Motto des Festivals Osteuropa Tage Berlin, das vom 15. September bis zum 21. November 2019 an verschiedenen Orten in Berlin stattfand. Dass Berlin und der osteuropäische Raum eng verknüpft sind, ist Allgemeinwissen in der deutschen Hauptstadt. Hier ist Russisch und Polnisch genauso oft zu hören wie Türkisch, Arabisch, Englisch oder etwa auch Deutsch. Das Festival findet seit 2017 statt und wird 2019-2020 von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa gefördert. Im Mittelpunkt steht Kunst, Literatur und Kultur aus Polen, Bulgarien, Tschechien und Russland.
Die Organisator*innen verkünden, dass die eingeladenen Künstler*innen, Autor*innen und Aktivist*innen wegen ihrer pro-demokratischen und pro-feministischen Ansichten in ihren Herkunftsländern auf Kritik stoßen. Klingt übertrieben? Nicht wirklich. Die Pussy-Riot-Mitbegründerin Mascha Aljochina wurde gerade in Russland verhaftet. Als sie auch im Novemder nach Berlin flog, um bei dem Festival aus ihrem Buch “Riot Days” zu lesen, wurde ihr Freund am Flughafen in Moskau festgenommen.

Nicht nur in Russland werden politisch aktive Frauen durch Gewalt, Diffamierung oder Strafverfahren zum Schweigen gebracht. Osteuropa Tage bieten den mutigen und begabten Frauen aus Osteuropa eine Bühne in Berlin.
Die Schwestern Borislava & Mihaela Karadzhova gaben in Bulgarien das erste Buch zur Sexualerziehung für Mädchen heraus und setzten damit ein Zeichen gegen das veraltete und diskriminierende Frauenbild. Ihre Werke wurden während der Kunstaustellung FEMENISEXFETISH an der Humboldt-Universität gezeigt. Bei der Vernissage war auch die russische Künstlerin und Illustratorin Yulia Shibirina anwesend, die von ihrer Selbstfindung als Feministin erzählte und ein differenziertes Bild von der heutigen Situation in Russland lieferte, wo der Widerstand gegen patriarchale Gewalt zwar langsam, aber immer mehr Gehör gewinnt.

Bei dem Poetry-Prose-Slam Mensch/FRAU/Mensch im PANDA Theater las die prominente Aktivistin Mascha Aljochina, wie auch die polnische Debütantin Roksana Wiankowska. In ihrem Roman „Anorexie zum Frühstück“ zeigt sie das Innenleben einer magersüchtigen jungen Frau, die gezwungen wird, den harten Kampf gegen Fremdbestimmung aufzunehmen. Den Slam gewann die tschechische Autorin Dora Kaprálová, die den Berliner Osteuropa-Fans wohl bekannt ist. Die Texte wurden von den Autor*innen in der Originalsprache vorgetragen, bevor die großartige Schauspielerin Kathleen Gallego Zapata die deutschen Übersetzungen vorlas. Es ist denkbar, dass nur wenige im Publikum alle fünf Sprachen konnten. Die faszinierende Erfahrung des Nicht-Verstehens und des Gestört-Seins gehörte also zum Konzept. Diese sprachliche Verwirrung ist besonders heute wertvoll, weil das Fremde immer öfter durch ohrenzerreißendes Dubbing ersetzt wird.
Während des Festivals wurden vielfache Grenzen überschritten: mentale, geographische und sprachliche, aber auch die Grenze zwischen den Künstler*innen und den Besucher*innen, zwischen bloßem Anschauen und Zuhören einerseits und Mitmachen andererseits.

„Voices to be heard“ hieß der zweitägige Übersetzungsworkshop bei Lettrétage, bei dem vier Teams Literatur aus den jeweiligen osteuropäischen Sprachen ins Deutsche übersetzten. Die Ergebnisse der Arbeit wurden in einer Lesung präsentiert und später im Magazin Stadtsprachen veröffentlicht. Die Berliner*innen wurden zudem eingeladen, am Workshop mit den Tänzerinnen vom ATOM THEATRE aus Sofia teilzunehmen und dabei die Grenzen der Weiblichkeit zu erkunden. Bei der Führung durch Neukölln, die das Festival Mitte September eröffnet hat, wurde mit-fotografiert. Bei den kulinarischen Events – mit-gekocht und mit-diskutiert.
Bei der offenen Diskussion beim kulinarischen Pop-Up “Dat is typisch Osteuropa: Essen wie beim Vati ohne Wodka-Flasche” am letzten Tag des Festivals ging es um den sozialen Druck auf Frauen in der Familie und auf dem Arbeitsmarkt sowie um den “gender care gap”. Es war aber keine trockene „ich-weiß-es-besser”-Diskussion. Der Austausch war persönlich, ehrlich und, ja, manchmal bitter, da die Referent*innen und die Besucher*innen ganz offen über ihre eigenen Erfahrungen aus dem Familienleben und der Karriere erzählt haben.

2020 gehen die Osteuropa Tage Berlin weiter und überraschen mit neunen spannenden Gästen. Um nichts zu verpassen, folgt dem Festival auf Facebook.
Fotos © Paweł Sokołowski für Osteuropa Tage Berlin
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