Im Untergrund von Kyiv

Kyiv, Metrostation und Plošča Arsenalna: Von fern waren die oberen Stockwerke des Hotel Saljut auszumachen, benannt nach einer sowjetischen Raumstation, welche sich auch in der Formensprache des futuristischen Dings widerspiegelte. Hier hatte sich ein armseliger Markt etabliert, auf dem eine kleine Anzahl von Trödlern zugange war. Ein paar Paletten Obst wurden feilgeboten, im Frachtraum eines Kleintransporters lag eine Auswahl obskurer Sockenpaare ausgebreitet. Es war schwer, sich diejenigen, die ihren Lebensunterhalt auf diese mühselige Weise aufzubessern suchten, als Adressaten der umliegenden Kioske vorzustellen, an denen es die unvermeidliche Auswahl an schick umhüllten Heißgetränken zu erwerben gab, ohne die eine urbane To-go-Klasse nicht mehr lebensfähig wäre.

Das Kloster

Dieses Beschäftigtsein mit Leben und Überleben kontrastierte markant mit einer Erfahrung weltabgewandter Ewigkeit, die erst wenige Minuten zurücklag – beziehungsweise ein paar Stationen im gut gefüllten Bus Nummer 24, in dem das Fahrgeld, von einem Passagier zum nächsten weitergegeben, nach vorne zum Chauffeur wanderte und das Wechselgeld auf selbem Weg zurückkam. Sie, die Erfahrung nämlich, begab sich im Höhlenkloster der ukrainischen Hauptstadt, das seinen Namen von künstlich angelegten, unterirdischen Einsiedeleien ableitet. Diese bilden den Nukleus der an einem Abhang hinunter zum Dnipro hingestreuten Anlage und sind beinahe 1000 Jahre alt.

Am unteren, flussseitigen Zugang war der Eintritt zumindest an diesem herbstlichen Spätnachmittag gratis. Sogleich umfing die Besucher*innen eine typische Atmosphäre von Wallfahrtsorten, sie roch nach Frömmigkeit, bieder und etwas muffig. Ältere, aber auch junge Frauen saßen auf Bänken, alle hatten ihr Haar bedeckt. Vereinzelt bekreuzigte sich jemand vor einem sakralen Artefakt. Mönche in Schwarz huschten vorbei. Eine Bude führte den ebenso typischen Mix aus Kitsch, Devotionalien und Erfrischungen. Die Herrschaft führte eine strenge, mit erheblicher Körperfülle ausgestattete Dame. Ein Kühlschrank mit Getränken stand, quasi als Exklave, vor ihrem Reich. Zugriff zum labenden Nass gab es allerdings erst, nachdem von drinnen die elektronische Freigabe erteilt worden war. Beim Öffnen spielte das Gerät eine kleine Melodie.

In den Nahen höhlen

Besucher traf man auf dem Weg durch das geistliche Zentrum der alten Rus zu dieser Tageszeit kaum noch. Nur wenige Minuten Marsch hügelan führten an den Zugang zu den sogenannten Nahen Höhlen (ukrainisch: Ближні печери (Bliżni pečery)), von denen ein Teil besichtigt werden kann. Von Frauen wurde züchtige Kleidung verlangt, Kittel und Kopftücher konnten ausgeliehen werden. Der Kauf von Kerzen um ein paar Groschen wurde einem ans Herz gelegt, schließlich gab es in den Katakomben sonst keine Lichtquellen.

Steil senkten sich Stufen in die Tiefe, unten war die Luft warm und verbraucht. Gebückt tappte man durch die Düsternis schmaler Gänge, schob sich vorbei an anderen Besuchern, deren Gesichtszüge bloß zu erahnen waren. Manchmal blitzte es im Schein der Kerzen golden auf. In Vertiefungen an den Seitenwänden standen kleine durchsichtige Sarkophage, darin lagen, in Tuch gehüllt, die sterblichen Überreste besonders verehrungswürdiger Mönche, die hier ihr eremitisches Dasein beschlossen hatten.

Gläubige drückten scheue aber innige Küsse auf die Behältnisse, erbaten murmelnd wohl auch Beistand. Dann weitete sich das Gewölbe zu eine Art Kapelle voller Kruzifixe, Ikonen und unterdrückten Stimmengewirrs. Überraschend bald stand man am Fuß einer zweiten Treppe, die einen wieder in den Tag entließ.

Das Höhlenkloster vom Dnipro aus gesehen: Es trägt den Ehrentitel Lavra, ein Begriff, mit dem eine Einsiedlerkolonie des orthodoxen Mönchtums bezeichnet wird.

Die Metro

Eine andere Unterwelt ist die Kyiver Metro; obwohl das Stationsgebäude am Arsenal eher an eine fliegende Untertasse erinnert. Unter dem Gewölbe der Kuppel des Vestibüls beginnen und enden die Rolltreppen. In diesem Fall braucht es gleich zwei solcher Exemplare hintereinander, um die Fahrgäste in den Schlund der Erde zu verfrachten. Ihre Ausmaße waren gigantisch.

Es geht so tief hinunter wie nirgendwo sonst auf der Welt: exakt 105,5 Meter unter den Grund. Die Fahrt zu den Bahnsteigen dauert trotz des rasenden Tempos der fahrenden Stufen denn auch bis zu fünf Minuten. An den Abstiegspunkten wachten, in engen Kabinen platziert, Ordnungshüterinnen über den geregelten Ablauf des Transits. Manchen gewährte seliger Schlummer Exil von ihrer sterbenslangweiligen Tätigkeit.

Die Kyiver U-Bahn, deren Netz heute aus drei Linien besteht, ist ein verlässliches und effizientes Verkehrsmittel, das pro Tag weit über eine Million Menschen befördert. Die Orientierung ist dank einer auch in lateinischen Buchstaben ausgeführten Beschilderung und Durchsagen auf Englisch auch für den Fremden recht einfach. Gleichzeitig umgibt sie eine nostalgische, ja anachronistische Anmutung.

Das liegt einmal an den nach wie vor in Verwendung stehenden Zügen des Herstellers Metrowagonmasch aus sowjetischer Fertigung. Ehern, dunkelblau und massig, erscheinen sie wie so manch andere Objekte hierzulande, auf eine eigentümliche Art substanziell und verlässlich. Das beruhigt, sobald die Garnituren in voller Fahrt in ohrenbetäubendes Rattern und Quietschen ausbrechen.

Dazu kommt außerdem noch die Ausgestaltung der Stationen, welche, besonders an älteren Streckenabschnitten aus den frühen 1960er Jahren, durch den beträchtlichen Aufwand beeindruckt. Sie verströmen Größe und Errungenschaft des Sozialismus: Marmor, Kandelaber und diverse weitere, auf ukrainische Ornamenttradition verweisende Dekorelemente, erheben sie zu wahren Pendlerpalästen in neoklassizistischem Prunk.

Bei der Gestaltung so mancher Metro-Station ließ man sich nicht lumpen.


Alle Fotos © Michael Robausch für osTraum


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