Text: Viktoriya Sokolova
In den Tiefen der Tundra treffen wir auf die Rentierhirten. Es ist die Republik Komi – eine Teilrepublik Russlands. Seit undenklichen Zeiten sind hier die Hirten unterwegs. Der Weg zu ihnen ist verrückt – Wüste, wie schneeweiße Milch, Schnee bis zum Horizont, Schnee bis zum Himmel. Neben Rentieren eignen sich am besten Schneemobile als Fortbewegungsmittel, Kolja – der älteste Sohn der Familie, zu der wir unterwegs sind – erklärte sich bereit, mich als Gast für eine Weile aufzunehmen. Kolja fährt sehr gut und demonstriert es auch gerne, aber ich kann die Kamera kaum in meinen Händen halten und habe das Gefühl, jeden Moment vom Schneemobil zu stürzen.



Wir sind da. Im Tschum ist es Abends sehr warm. Die gesamte Logistik im Inneren geht hauptsächlich um den Heizofen, der in der Mitte steht. Einige Überraschungen im Alltag des Haushalts: das Baby liegt auf einem Hirschfell, Trickfilme werden auf dem Laptop geschaut und die große Schwester Schwester spielt Airhockey auf Ihrem Tablet. Die modernen Technologien stehen Menschen auch in der Schneewüste zur Verfügung. Die junge Generation ist mittlerweile von den Technik nicht weniger abhängig als Kinder in der Stadt.





Wenn ein Kind weint, ist es in der ganzen Tundra zu hören. So sind Laptops, Tablets und Smartphones auch in der Tundra ein Mittel der Eltern, um etwas Ruhe zu haben. Dabei beschweren sich die Eltern, dass Kinder jetzt viel weniger draußen spielen. Sie haben immer eine Alternative – im warmen Tschum Videospiele zu spielen. Influencer*innen gibt es hier aber noch nicht. Das wäre aber der nächste Schritt, wenn mitten in der Tundra das Internet überall verfügbar wäre und Kinder in Malitsa (nationale Oberbekleidung aus Rentierfell) Instagram- und YouTube-Blogger*innen wären. Ist es surreal? Momentan Ja, aber auch die Tundra ändert sich rasant.





Die Technisierung hat sich fest in der Lebensweise der Rentierhirten etabliert. Der Generator bietet ständigen Zugang zu Elektrizität: Handys, Laptops und Tablets können fast immer aufgeladen werden. Die Lampen im Inneren sind ebenfalls elektrisch. All dies ist mitten in der arktischen Tundra in einem dreieckigen Haus aus Rentierleder und Planen möglich. Um das Haus stehen die vielen Rentiere.
Alle im Haus sprechen Komi – eine finno-ugrische Sprache. Als Russin verstehe ich nichts. Die Gastgeberin spricht aus Höflichkeit Russisch. Die Kinder verstehen Komi, antworten aber für gewöhnlich auf Russisch. In der Schule sprechen sie meistens nur Russisch. Kolja schreibt etwas in seinem Smartphone. Seine Mutter sagt, dass er Vkontakte mit seiner zukünftigen Braut chattet – einem Mädchen aus der Stadt, das immer davon träumte, mit Rentierhirten in der Tundra zu leben – “So etwas kann doch nur im Kopf einer Frau entstehen”. Es gibt nur einen Mobilfunkbetreiber, der hier Netz hat und selbst das ist extrem schlecht, Kolja schafft es aber immer wieder, die Stelle im Haus zu finden, von der seine Nachrichten gesendet werden können – eine Art Tundra-Tinder.







Abendessen. Auf dem Tisch liegt traditionell Wildbret – also das Fleisch der Rentiere nach verschiedenen Arten zubereitet. Außerdem gibt es geräucherte Wurst, Konserven, aufgetautes Brot, Nudeln und Butter. Zum Dessert gibt es Kekse, verschiedene Süßigkeiten, eine riesige Teekanne schwarzen Tee und am Kopfende des Tisches steht eine ganze Schüssel Zucker. Wenn es euch alles auf den ersten Blick ziemlich gewöhnlich erscheint, ist es in der Schneewüste eine einfache und doch sehr köstliche Belohnung nach einem langen und intensiven Weg bei -30 Grad. Das Essen hier muss lecker und nahrhaft sein und das ist es auch. Weder ein Garnelensalat noch ein Matcha Latte wären hier und jetzt mehr befriedigend als Brot mit Wurst und starker schwarzer Tee mit drei Esslöffeln Zucker.










Die Auswahl der Lebensmittel wird in erster Linie von der Haltbarkeit bestimmt. Die Rentierhirten gehen nur ein paar Mal im Jahr in die Stadt und holen sich für einige Monate im Voraus Proviant. Dann schaffen sie die riesigen Kisten in die Tundra. Mehrmals pro Saison kommt zu ihnen auch ein Geländewagen und verteilt vorbestellte Ware mit kürzerem Haltbarkeitsdatum. So ernähren sich die Rentierhirten Jahr für Jahr, Im Winter frieren sie vieles ein und ziehen mit ihren Hirschen von einer Weide zur anderen. Selbstisolation? Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen? Der Lieferdienst ist wahrscheinlich nicht der einzige Ausweg während Corona. Um eine potenziell gefährliche Reise in den Supermarkt zu vermeiden, können wir uns vielleicht ein Beispiel an den Rentierhirten von Komi nehmen – vorher gut überlegen und für einen langen Zeitraum Lebensmittel kaufen.







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Bildquellen: Viktoriya Sokolova für osTraum