Ein halbes Jahr später: Schiessereien erschüttern Serbien

Der Morgen des 3. Mai 2023 versetze Serbien in eine Schockstarre. Der 13-jährige K.K. erschoss acht seiner Mitschüler und den Wachmann der Vladislav Ribnikar Schule in Belgrad. Sieben weitere Schüler*innen und eine Lehrerin wurden schwer verletzt und ins Krankenhaus gebracht. Eine Schülerin erlag ihren Verletzungen zwölf Tage nach der Tat. In einem Augenblick breitete sich in ganz Serbien eine Schockstarre aus, der bis heute zu spüren ist.

Vladislav Ribnikar Schule am Tag nach der Trägodie

Durchatmen kann die Gesellschaft nicht, denn weniger als 48 Stunden später, in der Nacht vom 04. auf den 05. Mai 2023 werden südlich von Belgrad in Dubonac und Malo Orašje acht Leute erschossen und bis zu 14 Leute schwer verletzt. Der 21-jährige U.B. machte dabei Gebrauch von mehreren Waffen (einer Jagdwaffe, drei Pistolen und einer Granate), die im legalen Besitz seines Onkels waren.

Reaktionen und Proteste

In Folge reagierte die Regierung mit strikteren Waffengesetzen und mehr Polizeipräsenz an Schulen. Eine einmonatige Amnestie nach der Tat ermöglichte es Einwohner*innen illegale Waffen straffrei bei der Polizei abzugeben. Laut Statistikamt wurden 68.000 Waffen eingesammelt.

Die Opposition hingegen reagierte mit der “Serbien gegen Gewalt” (Србија портив насиља / Srbija protiv nasilja) Protestbewegung. Die Bewegung veranstaltet weiterhin wöchentlich Proteste und wandelte sich von Trauermärschen hin zu einer der größten Oppositionsbewegungen des Landes und schließlich zu einer eher kleinen wöchentlichen Bewegung unzufriedener Bürger. Der 19. Mai hatte die größte Teilnehmendenzahl von rund 60.000 bis 300.000 Menschen. Damit war das der größte Protest seit dem 5. Oktober 2000, als die Serb*innen Milošević stürzten.

Größter Protest in Serbien am 19. Mai, bis zu 300.000 Menschen schätzt die Opposition

2023 organisierte die Regierung jedoch einen Gegenprotest mit etwa 40.000 bis 50.000 Teilnehmenden, wobei die freiwillige Teilnahme von Menschen immer unwahrscheinlicher erscheint. Vor den Protesten wurden mehrere Einschüchterungsmehtoden geleakt. So wurden z.B. Postbeamte dazu angehalten nach der Arbeit zu den Protesten zu gehen, falls sie ihre Stelle behalten möchten.

Neben den bereits genannten Protestbewegungen gingen aber auch weitere Bewegungen auf die Straße – religiöse Gruppen, Nationalisten und Proteste zur Situation in Kosovo. Die Lage war sehr unübersichtlich. Letztlich konnte sich keine der Protestbewegungen gegen die Regierung durchsetzen. Der Bürgermeister von Belgrad ist am 1. September zurückgetreten und Neuwahlen sind für den 17. Dezember vorgesehen. Ob vorgezogene Parlamentswahlen ebenfalls stattfinden werden, ist noch unklar.

Femizide, Gewaltverherrlichung und die Medien

In der Gesellschaft herrscht Unruhe. Jahrelange Gewaltverherrlichung und die Vernachlässigung von Gewalttaten, vor allem gegen Frauen, sind nun im Bewusstsein der Gesellschaft vorgerückt. Wenn man die Bluttaten nicht mitzählt, gab es in Serbien seit dem 1. Januar 2023 und bis heute 26 Femizide. Unter den neun ermordeten Schüler*innen vom 3. Mai gab es acht Mädchen und einen Jungen dabei. Auch K.K. schien gezielt auf Mädchen geschossen zu haben.

Es ist eigentlich eine Seltenheit, dass Täter solcher Bluttaten überleben. So zeigen die geleakten Polizeiinterviews von K.K. und U.B., dass die beiden “Einzelfälle” durchaus medial geprägt wurden. Einer der Gründe, warum viele in Serbien die Abschaffung von etlichen Reality-Shows und die Annullierung verschiedener TV-Lizenzen von zumeist regierungstreuen gewaltverherrlichenden Sendern fordern. Eine nicht zu übersehende Aussage von K.K. aus seinem Polizeiinterview ist seine Motivation – K.K. hatte nach eigener Aussage eine Faszination für US-amerikanische Dokumentationsfilme über School Shootings bzw. Amokläufe in Schulen. Noch bevor die Aussagen von K.K. veröffentlicht wurden, hatte der mittlerweile ehemalige Bildungsminister Branko Ružić wenige Stunden nach der Bluttat mit dem Finger auf den Westen gezeigt. Die Gewalt, so Ružić, sei aus dem Westen nach Serbien gekommen. Ružić trat am 5. Mai 2023 u.a. in Folge seiner Aussagen zurück.

Solidarität und Verantwortung

In den Tagen nach den Tragödien fand sich die serbische Gesellschaft in einer neuen Solidarität wieder. Aufrufe zur Blutspende für die Versorgung von Verletzten sorgte für riesige Schlangen vor Krankenhäusern. Spenden wurden gesammelt. Die Familien der Opfer erhielten kostenlose Therapie. Alles als Bürgerinitiativen. Serbien wurde zu einer großen Nachbarschaft der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung.

Was jedoch unverändert bleibt, ist die Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft. Kriminelle werden weiterhin in die Talkshows des Landes eingeladen und die neu entflammte Gewalt im Kosovo findet keinerlei Urteil in der serbischen Gesellschaft. Vielmehr werden nationale Trauertage für paramilitärische mit Serbien assoziierte Gruppen abgehalten. Dabei ist die ohnehin übersichtliche Empathie mit der Ukraine kaum größer geworden. Die serbische Gesellschaft scheint ein Gewaltproblem zu haben, welches von Nationalismus geprägt ist und welches sie nicht in Griff bekommen möchte oder kann. Stattdessen werden die Aussagen von K.K. und Ružić als Beweis genommen, dass die Gewalt aus dem Westen kommt.

Seit den Ereignissen der 1990er-Jahren, vor allem nach den NATO-Bombardements 1999, ist ein zunehmender Konsens, dass alles Schlechte, gar Gewalttätige aus dem Westen kommt. Ebenso ein Grund, warum viele Serb*innen nicht verstehen, dass die Ukraine Opfer eines Krieges und grausamer Gewalttaten ist. Zu sehr stecke man in seiner eigenen Opferrolle. Die verbreitete Ansicht der serbischen Gesellschaft, dass Serb*innen keine Täter sind, sondern Opfer, soll weiter getragen werden, mit dem Narrativ eines einheitlichen Westens in der Täterrolle.

Viele Menschen sehen die Solidarität mit den Opfern vom Mai 2023 als ihren kleinsten gemeinsamen Nenner in der serbischen Gesellschaft. Denn wenn es um das Leben von Kindern geht, spielt Politik kaum eine Rolle. Wenn es jedoch um andere gesellschaftliche Fragen und Fragen über Gewalt geht, so ist sich selbst die “Serbien gegen Gewalt” Bewegung nicht einig.

Wie geht es weiter?

Ein halbes Jahr ist mittlerweile verstrichen und der 3. Mai ist in den Hintergrund gerückt. Die Ereignisse prägen jedoch immer noch das politische Geschehen und das Bewusstsein in der Gesellschaft. Sie werden aber meistens nur in einem Nebensatz erwähnt. Mit den Ereignissen werden andere Gewaltprobleme der Gesellschaft gleichgesetzt.

Sollten Neuwahlen im Parlament so ausgehen, dass Vučićs Fortschrittspartei wieder mit einem Sieg hervorgeht, so wird das Thema wahrscheinlich aus der Medienlandschaft verschwinden, da man die Regierung in ihrem Umgang mit der Tragödie bestätigen würde.

17.06.2023: Politiker*innen werden aus Protest mit Gefängnisuniformen “verkleidet”

Gewalt steht weiterhin an der Tagesordnung. Es wird regelmäßig von einschneidenden Erlebnissen berichtet, die irgendwo im Land passieren. Die „Serbien gegen Gewalt“ Bewegung nimmt einige dieser Gewalttaten mit einer Schweigeminute in sein Programm auf. Andere, wie z.B. dem Mord an einer 18- jährigen Transfrau, bleiben ohne Beachtung und ohne einer Schweigeminute. Viele junge Serb*innen sehen den Punkt nicht mehr, jede Woche auf die Straße für eine Bewegung zu gehen, die bis jetzt keinerlei Fortschritt erzielen konnte, sondern nur um ausgewählte Menschen trauert, die in das Bild eines konservativen Serbiens passen. Die Aufmerksamkeit im Ausland ist verflogen und alle geplanten Reformprogramme abgeschlossen. Das Leben geht in Serbien weiter. Niemand will mehr an das Tragische denken. Andere Probleme, wie die Inflationsrate von über 15%, Auseinandersetzungen im Norden Kosovos, oder die Überlastung des Gesundheitswesens, überfluten den Alltag.


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Fotos © Stefan Radaković für osTraum

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