“Ist es leicht, Lette zu sein?” – das Lettische Literaturfilmfestival 2023

Unter der Fragestellung “Ist es leicht, Lette zu sein?”, die auf das Erbe der sowjetischen Diktatur und den post-sowjetischen Aufbruch verweist, fand vom 11.-14. Mai 2023 in Berlin das Lettische Literaturfilmfestival statt. Anlässlich des 33. Jahrestags des unabhängigen Lettlands, machte die Plattform Latvian Literature, die Lettische Botschaft und die Brotfabrik das Berliner Publikum mit den wichtigsten zeitgeschichtlichen Werken Lettlands aus Literatur und Film bekannt.

Foto © Cora Litwinski für osTraum

Nostalgie und Humor in “Jelgava 94”

Die Aufführung der Verfilmung des erst kürzlich in der deutschen Übersetzung von Bettina Bergmann erschienenen Romans Jelgava 94 von Jānis Joņevs bildete den Auftakt des Festivals. Jānis Joņevs selbst erschien zur anschließenden Buchdiskussion. Dank des Verkaufsstandes des Buchladens Pankebuch, der das Festival begleitete, bot sich hier die Gelegenheit zum Bucherwerb und zur Signierung.

Foto © Cora Litwinski für osTraum

Jelgava 94 ist eine halbbiographische Coming of Age-Erzählung, in der Jānis Joņevs einen nostalgischen Rückblick auf seine Jugend in der lettischen Provinz der 1990er Jahre wirft. Ausgehend vom Tod Kurt Cobains 1994, schließt sich Jānis einer von ihm verehrten Gang von Halbstarken an und taucht mit diesen in die Metal-Szene der Provinzstadt Jelgava ab. Joņevs versteht es, das kontrastreiche Erbe seiner Heimatstadt stimmungsvoll in Szene zu setzen: die raue, im Zweiten Weltkrieg fast völlig zerstörte Plattenbaustadt auf der einen Seite und die stolze Hauptstadt des ehemaligen Herzogtums Kurland mit dem größten Barockschloss des Baltikums auf der anderen. Jelgava 94, wo die vergessenen Geister des europäisch-aristokratischen Erbes mit der zerfallenden sowjetischen Kulisse zusammentreffen und für die Jugend einen Raum des Aufbruchs bilden, wurde 2014 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet.

Voller Nostalgie und Zuneigung berichtet Joņevs bei der Buchvorstellung von der rauen Atmosphäre im Jelgava jener Zeit. Er beschreibt, wie er und seine Clique in der Lage waren, sich ein eigenes Universum zu erschaffen. “Jelgava is a state of mind”, reflektiert Joņevs schwärmerisch. Es wird deutlich, wie in den 1990er Jahren bis heute ein Kriminalitätskult im post-sowjetischen Raum gepflegt wird. Hässliche Plattenbauten, Gefängnisse, psychiatrische Einrichtungen und Gangster sind zentrale Elemente des Kultes und werden von Joņevs in seiner Geschichte gezielt eingesetzt. Dies geschieht mit einer ordentlichen Portion Humor und Selbstironie, die den Roman auszeichnen:

Es waren harte Zeiten. Das Zentralgefängnis von Jelgava wurde von Ivan Haritonovs beherrscht. Er war erst Boxer gewesen und wurde dann eine Legende der kriminellen Unterwelt. Im Gefängnis lernte er Lettisch, mit dem Computer umzugehen, las und machte Sport. Seine Freunde hielten den Verkehr auf der Garoza Iela auf und warfen allerlei Güter über den Gefängniszaun. Die Polizei war machtlos dagegen. Das Gefängnis in Pārlielupe war noch verrückter. Dort saß Juris’ Bruder ein, dem ich verboten hatte, sich meine Stereoanlage auszuleihen. Was hätte ich denn tun sollen? Er fand woanders eine, verkaufte sie und versoff das Geld, aber ich hatte mir einen gefährlichen Feind gemacht.

‘Ein Typ ist ausgebrochen. Er braucht was, wo er ein paar Tage bleiben kann.’ […] ‘Er kann bei mir bleiben.’ […] Wo war er ausgebrochen? Woher brachen die Leute überhaupt aus? Aus der Klapsmühle, zum Beispiel. Hatte Jelgava denn eine Psychoneurologische Klinik? Die gab es. Ein unverstandenes Genie. Oder nein, eine fühlende Seele, die tief in mich hineinblicken und mein Genie erkennen würde. Vielleicht war es sogar ein Mädchen? Immerhin hatte Nāve nicht gesagt, dass es ein ‘Typ’ war. Also ein Mädchen. Ich würde My Dying Bride für sie auflegen und ihr ein paar Frikadellen servieren. Nein, My Dying Bride war schon totgespielt worden, das hörten sie sicher sogar in der Klapse, ich brauchte etwas anderes … Celestial Season? Ceremonium? In the Woods? […] Ich rannte in den Flur, wo ich auf einen Jungen in meinem Alter traf. Er sah gar nicht gefährlich aus. […] ‘Wo bist du ausgebrochen?’ ‘Von zu Hause. Aus der Schule.’ […] ‘Willst du ein paar Frikadellen essen?’ ‘Gern.’

So besticht Jelgava 94 mit seinem Humor und eröffnet eine andere Perspektive auf die “wilden 90er”, die zumeist als traumatische Zeit des Zusammenbruchs wahrgenommen werden. Die Perspektive des unbeschwerten, offenen Jugendlichen verleiht der Thematik Leichtigkeit. Joņevs beschreibt seine jugendliche Eskapaden mit einem urkomischen selbstironischen Pathos:

Die Balkontür ließ sich öffnen. […] Ich schaute nach unten ins Bodenlose. Zweite Etage. […] Wenn das die vierte Etage gewesen wäre, wie unsere Wohnung, okay, dann wäre klar, dass ich nicht springen könnte. Aber das hier war die Grenze, genau die Art von Grenze, die ich überwinden musste. […] Dieser Balkon war voller Erinnerungen, voller Leben. Pūpols hatte hier gekotzt und die Katze der Nachbarn hatte die Frikadellen gefressen. Zombies Kühlschrank hatte den Geist aufgegeben und die Frikadellen waren auf den Balkon gestellt worden. […] Ich stieg über die Balkonbrüstung […] Und sprang. Es passierte sehr schnell. Unten angekommen versuchte ich herauszufinden, ob mein Plan funktioniert hatte. Gerade lag ich mit dem Gesicht in Schnee und Hundescheiße. […] Vom Balkon erklang ‘Hymn of Lunacy’. Darauf hatte ich gewartet. Das hier war wirklich Metal. Kaputt im Schnee herumliegen.

Die Zugfahrt nach Riga wird folgendermaßen beschrieben:

Auf dem Weg von Jelgava nach Riga gibt es nichts Interessantes. Es geht nicht bergauf, nicht bergab. Bleibt nur, es sich vorzustellen. Man hat den Eindruck, die ganze Gegend sei nur sorgfältig konzipiert worden, um die Vorstellungskraft anzuregen. […] Hier ist die Ebene von Zemgale. Sie ist flach, schrecklich. Nirgendwo könnte man sich verstecken, es gibt kein Entkommen. […] Dort, weit hinten auf dieser Seite, liegt Litauen. Kurz vor diesem sagenumwobenen Land liegt der Bahnhof Meitene [lettisch für Mädchen, C.L.]. Wie gerne würde ich da mal durchfahren. Etwas näher an uns dran liegt Eleja, die Residenz der Zauberin. Dann kommt Jelgava, über das wir kein Wort verlieren müssen. Und dann Olaine, das Ende von allem, der Horror des Lebens, Lettlands Anarchiehauptstadt und von den Taliban kontrolliertes Gebiet. […] Hier wurden alle Drogenabhängigen von Jelgava ausgebildet und versorgt. MDMA wurde hier im industriellen Stil auf Fließbändern hergestellt.

Eine weitere Auffälligkeit des Romans, die zur Leichtigkeit beiträgt, ist die Absenz von nationalen Konflikten, die in Lettland, wo es zu einer Massenansiedlung von russischen Arbeiter*innen zu Sowjetzeiten kam, für gewöhnlich eine Rolle spielen. Joņevs schlägt hier versöhnliche Töne an. Während er, vom Balkon gestürzt, mit kaputten Beinen im Schnee liegt und von Passanten ignoriert wird, kommen ihm ausgerechnet zwei Gopniks im schwarzen BMW zur Hilfe und fahren ihn ins Krankenhaus:

Vom Rückspiegel baumelten einige Glücksbringer: eine Ikone, ein Rosenkranz, ein Miniaturschädel und ein nacktes Püppchen. Außerdem konnte ich ihre beiden rasierten Köpfe und ihre Schultern sehen, sie trugen beide Lederjacken. Sie schienen älter zu sein als ich. Michail Krug verstummte. Die Kassette war zu Ende. Der Kleinere brüllte wütend: ‘Oi, es ist ausgegangen! Es ist aus!’ Und dann fing er an, mit der Faust auf die vordere Ablage einzuschlagen. Der Größere versicherte ihm, dass er ihm die Fresse einschlagen würde, erklärte ihm, dass das Kassettendeck nicht das Problem war und forderte ihn auf, eine neue Kassette einzulegen. Dann bremste er plötzlich, streckte seinen Kopf aus dem Fenster und brüllte auf Russisch: ‘Geiler Arsch!’ Ich traute mich gar nicht erst hinzuschauen, auch wenn sich das sicher gelohnt hätte. Es reichte mir, die beiden zu beobachten und hin und wieder wollte ich meine Augen und Ohren schließen. […] Es war alles so faszinierend, dass ich gar nicht fragen wollte, wohin wir eigentlich fuhren.

Der russische Interpret von Gefängnis-Chansons Michail Krug erweist sich indessen als guilty pleasure des Metalheads Jānis.

“Muttermilch”: Eine starke weibliche Protagonistin in einer Generationengeschichte

Ein filmisches Highlight des Festivals war die brandneue Verfilmung des Romanes “Muttermilch” (Mātes Piens) von Nora Ikstena. Muttermilch ist eine faszinierende Generationengeschichte im Nachkriegs-Lettland mit einer beeindruckenden weiblichen Protagonistin, die teilweise auf authentischen Erinnerungen der Autorin beruhen dürfte.

Muttermilch beginnt chronologisch mit der sowjetischen Okkupation Lettlands. Ein Rotarmist erschießt einen lettischen Bauern, den Vater der Protagonistin Astra. Die Mutter flieht mit Astra nach Riga, wo diese dann aufwächst. Trotz des Stalinismus hält die Familie die Erinnerung an ein unabhängiges Lettland im Privaten am Leben, passt sich aber auch den neuen politischen Begebenheiten im Sowjetimperium an.

Astra entwickelt als Kind eine Leidenschaft für Biologie. Als junge Erwachsene ist sie dann schon Medizinstudentin mit großen Forschungsambitionen. Sie wird ungewollt schwanger und bringt 1969 ihre Tochter Nora zur Welt. Mit der Unterstützung ihrer Eltern kann Astra ihre wissenschaftliche Karriere fortsetzen und wird zu einer gefragten Spezialistin im Bereich der Gynäkologie. Bald schon folgt eine Einladung an ein renommiertes Forschungszentrum nach Leningrad. Hier verfolgt Astra ein besonderes Ziel: die Durchführung einer künstlichen Befruchtung.

Ihre tiefgläubige russische Nachbarin Serafima wird zum Versuchsobjekt, die künstliche Befruchtung verläuft erfolgreich. Allerdings ist Serafima mit einem gewalttätigen Kriegsveteranen verheiratet. Als dieser Serafima in der Schwangerschaft prügelt, verliert Astra die Beherrschung und schlägt auf ihn ein.

Zur Strafe wird Astra aus der Forschung ausgeschlossen und in die lettische Provinz verbannt. Erst hier kommen sich Mutter und Tochter näher. Astra verfällt in eine schwere Depression. Nora, einst von ihrer Mutter als große Bürde aufgefasst, erweist sich als Stütze und sogar Lebensretterin. Auf dem Land schließen beide Frauen Freundschaft mit der intersexuellen Jesse, die zur engen Vertrauten der Familie wird.

Das Exil auf dem Land wird zum Schlüsselmoment, an dem sich Astras dissidentisches Bewusstsein weiterentwickelt. Sie feiert den 18. November, den Geburtstag des freien Lettlands und beginnt, ihre Tochter in sowjetkritische Themen einzuweihen. “Vielleicht wird ein Wunder geschehen und Lettland leben”, hofft sie. Aus der Sicht Astras ist die Generation Noras eine Sklavengeneration, erzogen im Geiste der Sowjetherrschaft. Über die Beerdigung von Breschnew kann sie nur zynisch lachen. Nora lehnt die subversiven Gedanken ihrer Mutter, ihre Erzählung von den russischen Okkupanten zunächst ab. Doch auch sie entwickelt ein zunehmend kritisches Bewusstsein, besonders, als sie für den Schulabschluss nach Riga zurückzieht und unter Androhung gezwungen wird, ihren beliebten freigeistigen Lehrer Blūms zu denunzieren. Auch ihre Großeltern stellen fest, dass Nora nun “alt genug ist”, um die Wahrheit über ihr Land zu erfahren. Aus den Tiefen eines schweren Holzschrankes holt ihr Großvater Erinnerungsstücke aus dem freien Lettland hervor.

“Muttermilch” setzt ein berührendes Denkmal für die Opfer totalitärer Herrschaftssysteme, deren Lebensträume in der Diktatur zerstört wurden.

Besondere Hervorhebung verdient die beeindruckende Rolle der Astra: eine hochintelligente und freidenkende Dissidentin, die sich der Wissenschaft leidenschaftlich hingibt und dabei die Mutterrolle gnadenlos ablehnt. Hier bietet “Muttermilch” eine erfrischend originelle Darstellung einer unabhängigen sowjetischen Frau. Was den Film ebenfalls interessant macht, ist die Reflexion über das intergenerationelle Verhältnis zum unabhängigen Erbe Lettlands. Die Wandlung Noras von einer überzeugten Sowjet-Jugendlichen, die die “Völkerfreundschaft” hochhält, zur nationalbewussten Lettin wird eindrücklich geschildert und regt zum Nachdenken über die Wandlung des Nationalbewusstsein in der späten Sowjetunion an.

Subkulturen im Lettland der 1980er Jahre

Das Lettische Literaturfilmfestival wartete neben neuen Produktionen auch mit einem Klassiker auf. Tatsächlich diente dieser sogar zur Inspiration des Festivaltitels “Ist es leicht, Lette zu sein?”. Der Dokumentarfilm “Ist es leicht, jung zu sein?” (Vai viegli but jaunam?) von Juris Podnieks traf 1986 den Nerv der Zeit und verzeichnete in der Sowjetunion weit über 20 Millionen Kinobesucher. Passend zum damaligen politischen Reformkurs der Perestroika, der die Jugend mobilisieren und Jugendsubkulturen kanalisieren sollte, stehen Jugendliche im Zentrum von Podnieks’ Dokumentation.

Ausgehend von einem Rockkonzert der lettischen Band Pērkons interviewte Podnieks mehrere lettische Jugendliche zu ihren Zukunftsplänen und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft. Zu Wort kommen unter anderem ein Mitglied der lettischen Schützengarde, “Hooligans”, ein Punk, ein Hare Krishna und Afghanistanveteranen.

Was der Dokumentarfilm seinerzeit erstmals in den öffentlichen Diskurs brachte, war die Erkenntnis, dass sowjetische Ideale, wie Kollektivismus, Patriotismus und Selbstlosigkeit, substanzlos waren. Individualismus, Zynismus, Konformismus und Isolation sprechen aus den Monologen der Interviewten. Die Unterschiede ergeben sich im individuellen Umgang der Jugendlichen mit der Desillusionierung. Während der Schützengardist die ideologische Leere seiner Tätigkeit mit materiellen Zielen kompensiert, verweigern sich die Anhänger der Subkulturen der bevormundenden sowjetischen Gesellschaft.

Auch wenn “Ist es leicht, jung zu sein?” in der zweiten Hälfte Längen aufweist, ist der Film ein wertvolles Zeitdokument, das den Zeitgeist der Perestroika in Lettland übermittelt und lettisch-sowjetische Jugendsubkulturen sehr gut dokumentiert hat.

Ist es also nun leicht, Lette zu sein? Das Lettische Literaturfilmfestival beantwortet diese Frage eher mit einem Nein, wenngleich die Aufbruchszeit der “wilden 90er” in einem positiven Licht erscheint. Während des Festivals wurde das Leid Lettlands deutlich sichtbar, das sich aus der Spannung zwischen der europäischen Zugehörigkeit, der Fremdheit und Fremdbestimmung innerhalb der Sowjetunion ergibt. Tatsächlich galt das Baltikum innerhalb der Sowjetunion als das “innere Ausland”.

Abschließend kann festgehalten werden, dass die Veranstalter*innen mit ihrem fesselnden Literaturfilmfestival eine beeindruckende Auswahl an bedeutenden kulturgeschichtlichen Werken Lettlands präsentiert haben. osTraum kann es kaum erwarten, was als nächstes kommt!


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