Ein Interview mit Macher:innen von Latvian Literature

Veranstaltungen wie die Frankfurter Buchmesse sind immer eine gute Gelegenheit, neue Akteure, Organisationen und Themen zu entdecken. Dieses Jahr hatten wir, dank des Interviews mit der Platform „Latvian Literature“ die Möglichkeit uns etwas tiefergehend mit aktuellen kulturellen Entwicklungen in Lettland auszutauschen und echte introvertierte lettische Literat:innen kennenzulernen.

osTraum: Könnt ihr einen kurzen Überblick über den Status der lettischen Literatur geben? Wie hat sich die Literaturszene in den letzten Jahren entwickelt?

Die Wahrnehmung der lettischen Literatur als solche hat sich in der Gesellschaft verändert. Die Menschen beginnen mehr zu verstehen, was der Literaturexport bedeutet und warum wir internationale Buchmessen besuchen oder unsere Autor:innen zu den internationalen Literaturfestivals schicken müssen. Denn es geht um weltweite Anerkennung und Repräsentation des Landes. Die Möglichkeit, mehr staatliche Mittel zu erhalten, trägt zur Qualität der lokalen Literaturfestivals, der jährlichen lettischen Literaturpreise und der Arbeit der Plattform ‚Latvian Literature‘ bei.

Was die lettische Literatur selbst anbelangt, so haben wir mit der historischen Reihe We.Latvia.XX century zurückgeblickt, unsere komplizierte Geschichte des 20. Jahrhunderts Revue passieren lassen. Jetzt können wir sehen, wie sich neue Trends in unserer Literatur entwickeln. Wir haben selbstironische, humorvolle und witzige Autor:innen, die bereit sind, in ihren literarischen Werken die Gegenwart zu reflektieren und zu betrachten.

[Mehr Infos zu der Reihe „We.Latvia.XX century“, die im Verlag „Dienas Grāmata“ erschienen ist, gibt es hier.]

osTraum: Auf eurer Website habt ihr eine Übersicht über „10 works published in 2020“ und von den 10 Werken sind 4 Gedichte und nur 1 Roman. Spiegelt dies die Struktur der Literaturszene wider?

Ja, Lettland war schon immer ein sehr poetisches Land. Angefangen mit unseren nationalen Volksliedern Dainas (kleine Vierzeiler mit alten lettischen Weisheiten, die in einem Lied festgehalten wurden. Dainas waren Teil von Feiern, der täglichen Arbeit, und Reflexionen über das Leben, die in mündlicher Form bewahrt wurden), und weiter mit der enormen Rolle der lettischen Dichter:innen während der sowjetischen Besatzung. Damals galten die Dichter:innen als Rockstars: Zu ihren Lesungen kamen Tausende von Menschen, sie bildeten ein kulturelles Zentrum, das die Nation um sich scharte. Auch heute gibt es in Lettland weiterhin viel Lyrik, viele junge und aufstrebende Dichter:innen, und auch die lettische Prosa ist oft sehr poetisch. Ein weiterer beliebter Trend ist die Kinderlyrik, die in Europa (und wahrscheinlich auch weltweit) ein einzigartiges Genre ist.

osTraum: Was ist einzigartig an der lettischen Literatur, aus eurer Sicht?

Die lettische Literatur hat noch keine sehr lange Geschichte, und man könnte sagen, dass wir immer noch auf der Suche nach unserer literarischen Identität sind. Wie bereits erwähnt, ist die Poesie – viel Poesie – ein sehr großer und bedeutender Bestandteil der lettischen Literatur. In der Vergangenheit war der größte Teil der Prosa auch von starken Autorinnen geschrieben worden. Eine weitere Einzigartigkeit sind die großartigen Illustrator:innen, die nicht nur lettische Bücher illustrieren, sondern inzwischen weltweit gefragt sind. Auch die historische Literatur nimmt einen großen Teil unserer Literaturszene ein.

osTraum: Wie hat sich die Verlagsszene in Lettland in letzter Zeit entwickelt? Gibt es hauptsächlich große Player oder würdet ihr sagen, dass viele unabhängige Verlage auf dem Markt sind?

In der Regel gibt es mehrere große Verlage, aber es gibt auch immer mehr Autor:innen, die ihre eigenen Werke veröffentlichen wollen (z. B. Zane Zusta, die einen eigenen Verlag für ihr Buch gegründet hat und sehr erfolgreich ist). Für uns als Literaturexportplattform ist es schwierig, mit einzelnen Verlagen zusammenzuarbeiten, da bisher der Verlag im Mittelpunkt stand, der auch die Urheberrechte am Buch hat. Es gibt auch erste Veröffentlichungen in lokalen Literaturzeitschriften (Satori) oder Zeitschriften / Festivals (z. B. Puntcum), das sind großartige, interessante Publikationen, aber das Hauptgeschäft liegt immer noch in den Händen der großen Verlage.

osTraum: Wie, würdet ihr sagen, beeinflusst die sowjetische Vergangenheit Lettlands und insbesondere der Zusammenbruch der Sowjetunion die lettische Literatur bis heute?

Sicherlich war es eine lange Geschichte und hat unweigerlich immer noch Auswirkungen, aber gleichzeitig scheint es, dass wir selbst diese Phase gerne überwinden würden. Wir möchten im Ausland nicht mehr als eines der postsowjetischen Länder (was immer noch viel zu oft verwendet wird, selbst nachdem wir vor mehr als 30 Jahren unsere Unabhängigkeit wiedererlangt haben) gesehen werden, sondern als normale Europäer:innen. Zumindest zeigen das unsere bisherigen Erfahrungen wie in der Serie We.Latvia.XX century. 9 von 13 Romanen sind ein Blick zurück in die damalige Zeit, wie eine nationale literarische Therapie, etwas, das man wirklich verstehen muss, ein „durch den Schmerz hindurchgehen“. Aber hoffentlich können wir die Vergangenheit allmählich in das Regal der Geschichte legen und weiterleben.

osTraum: Ich habe gesehen, dass „Soviet Milks“ von Nora Ikstena ein Buch war, das international bekannt wurde. Könnt ihr über dieses Buch mehr erzählen, was macht es so besonders und attraktiv für die Leser:innen?

Die Autorin des Buches ist eine der beliebtesten und meistverkauften lettischen Schriftstellerinnen, und die Geschichte ist teilweise autobiografisch, was die Stärke dieses Buches ausmacht. Durch ihre persönlichen Erfahrungen konnte die Autorin die Geschichte dieser Epoche erzählen. Das Buch ist auch eines der meistverkauften lettischen Bücher im Ausland, von dem bisher 20 Übersetzungen vorliegen. Es wurde für mehrere internationale Preise nominiert und wird demnächst als Verfilmung in die Kinos kommen.

osTraum: In Lettland wie auch in anderen baltischen Staaten gibt es derzeit eine Diskussion über die Förderung der lettischen Sprache, die von der russischsprachigen Minderheit als Bedrohung empfunden wird. Wie gut sind die „ethnischen Russen“ in die Literaturszene integriert?

Die Frage nach der russischsprachigen Minderheit war schon immer heikel, und wir ermutigen immer Journalist:innen, die Literatur (oder auch Kultur allgemein) von der normalen Gesellschaft zu trennen, da dies eine politische Frage ist, die wir nicht beantworten können oder wollen, wir arbeiten mit der Literatur.

Was wir können, ist zu betonen, dass unabhängig von der Art der Diskussionen, die die baltischen Staaten über die Förderung oder gar den Schutz der Sprache führen, diese Bedrohung für die lettischen Autor:innen und Künstler:innen nicht wirklich wahrgenommen wird. Zum Beispiel gibt es keine Unterscheidung zwischen lettischen und russischen Autor:innen bei der Verteilung der Förderung der Kulturhauptstadtstiftung (KKF), die die Künstler:innen finanziell unterstützt. Wenn es sich um Qualitäts-Literatur handelt, dann unterstützt die KKF auch ein Buch, das in russischer, livländischer oder lettischer Originalsprache veröffentlicht wird. Solange es sich um eine:n lettische:n Autor:in handelt.

Ein anschauliches Beispiel für lettisch-russische Literatur ist das kreative Kollektiv bzw. die Gruppe lettischer Dichter:innen, die in russischer Sprache schreiben: „Orbīta„. Sie haben auch einen eigenen Verlag, veröffentlichen und fördern Bücher von lettischen und russischen Autor:innen, und ihre Reihen haben in den letzten Jahren viele Erfolgsgeschichten und ausverkaufte Buchauflagen. Eine lustige Tatsache ist, dass die Bücher von Orbita noch nie in einer russischen Buchhandlung in Lettland verkauft wurden. Obwohl sie angeboten worden sind. Natürlich gibt es neben Orbita noch einige andere Autor:innen, aber im Allgemeinen könnte dieser Anteil viel, viel höher sein. Allerdings wird dieses Thema sehr oft für politische Zwecke benutzt, um die Gesellschaft zu spalten.

Die russische und die lettische Literaturbühne sind nicht weit voneinander entfernt, und an den Veranstaltungen lettischer Autor:innen nehmen russische Schriftsteller:innen teil und umgekehrt. Außerdem arbeiten russische Autor:innen gut mit lettischen Autor:innen zusammen, und oft übersetzen sie sich gegenseitig in ihre eigenen Sprachen. Wir würden wirklich nicht sagen, dass Russ:innen und Lett:innen in unserer Literatur getrennt existieren.

osTraum: Die Deutschen haben eine starke Affinität zu allen Arten von Krimis und wahren Kriminalromanen. Ist das in Lettland auch so? Was würdet ihr sagen, ist das bevorzugte Genre in Lettland?

Ja, es gibt wirklich einige gute Autor:innen, die in diesem Genre schreiben (wie Dace Judina-Nīmane oder Andris Kolbergs), aber vielleicht sind wir noch nicht ganz so weit, und in Lettland werden hauptsächlich skandinavische (und natürlich deutsche) Krimis gelesen.

Unser Literaturbereich ist im Allgemeinen zu klein, um ein besonders starkes Genre hervorzuheben, wie es in anderen großen Ländern möglich ist. Ansonsten müssen wir die Lyrik, die historische Literatur und die Kinderbücher erwähnen – diese drei zeichnen sich als unsere Stärken aus.

Nora Ikstena – Muttermilch (Klak Verlag)

osTraum: Wie wird die lettische Literatur eurer Meinung nach international wahrgenommen, und worin seht ihr die größten Herausforderungen bei der Förderung dieser Literatur? Wie viele lettische Bücher werden jedes Jahr ins Deutsche übersetzt?

Wir stehen noch am Anfang des Weges, um mehr und engere Beziehungen zu stabilen Partnern und Verlagen im Ausland aufzubauen. Wir hatten eine erfolgreiche Literaturexportkampagne #iamintrovert, die in der Verlagsbranche anerkannt und geschätzt wird, aber ansonsten sind wir noch unbekannt. Wir möchten aber denken und hoffen, dass die lettische Literatur bald noch mehr international entdeckt wird.

Seit kurzem arbeiten wir mit dem deutschsprachigen Markt zusammen und bisher ist es schwer, für jedes Jahr eine konkrete Zahl zu nennen. Insgesamt wurden mehr als 30 Bücher ins Deutsche übersetzt, von denen einige gute Kritiken erhalten haben, wie z.B. der Gedichtband Wilde Tiere von Krišjānis Zeļģis (erschienen im Parasitenpresse Verlag), Straumēni von Edvards Virza (erschienen im Guggolz Verlag) und Der Kiosk von Anete Melece (erschienen im Atlantis Verlag (Orell Füssli Kinderbuch), Schweiz). [Eine Übersicht zu übersetzten Werken gibt es hier]

osTraum: Und schließlich: Welche Bücher würden ihr derzeit empfehlen?

Von dem, was in deutscher Sprache verfügbar ist, seht euch bitte die #stayathome-Leseliste an, die wir letztes Jahr während der Pandemie erstellt haben. Hier findet ihr einige gute Empfehlungen.


Das Interview führte Tobias Hartmann mit Juta Pīrāga und Ildze Jansone.


Copyright der Bilder: Titelbild „#iamanintrovert“ – Latvian Literature; „We.Latvia.XX century“ – Dienas Gramata Verlag, Buchcover „Muttermilch“ – Klak Verlag

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