Was ist eine „Herzschaufel“? Was ist die „Hautundknochenzeit“? Was ein „Kartoffelmensch“? Und was eine „Atemschaukel“? In Herta Müllers gleichnamigen Roman „Atemschaukel“, für den sie 2009 den Literaturnobelpreis erhielt, erzählt sie die Geschichte von Leopold Auberg aus der rumänischen Stadt Sibiu (ehem. Hermannstadt), der der deutschen Minderheit der Siebenbürger Sachsen angehört und zur Zwangsarbeit in ein sowjetisches Arbeitslager deportiert wurde.
Rumänien war unter der faschistischen Diktatur Antonescus zunächst mit Nazi-Deutschland verbündet. Als Antonescu jedoch 1944 durch einen Staatsstreich entmachtet wurde, schloss sich Rumänien der Anti-Hitler-Koalition an. Trotzdem wurde das Land de facto von der Roten Armee besetzt. Zum Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die sg. „Rumäniendeutschen“, wie die Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben und andere zu der Zeit in Rumänien lebenden Deutschen, enteignet sowie Männer und Frauen zwischen 17 und 45 Jahren zum sogenannten „Wiederaufbau“ in die Sowjetunion deportiert (jene, die nicht schon während des „Heim-ins-Reich“-Programms in das Dritte Reich umgesiedelt worden waren, wie die Bukowina-, Bessarabien- und Dobrudschadeutschen).
Herta Müller, die selbst der rumäniendeutschen Minderheit der Banater Schwaben angehört, hat für diesen Roman ehemals Deportierte ihres Heimatdorfes befragt – auch ihre Mutter, die selbst fünf Jahre lang im Arbeitslager war –, ein Tabuthema, über das zumeist geschwiegen wurde und bis heute geschwiegen wird. Einer von ihnen war der Schriftsteller Oskar Pastior (1927-2006), der ebenfalls rumäniendeutscher Siebenbürger Sachse war und mit dem sie das Buch gemeinsam verfassen wollte, der jedoch 2006 verstarb. Von ihm hatte sie zahlreiche Details und Notizen aus dem Lageralltag sammeln können, um den Roman zu Ende schreiben zu können.
Im Roman beschreibt sie das Arbeitslagerleben aus Sicht Leopold Aubergs, seine Erlebnisse und Gedanken, die Rituale und Routinen wie die Ausnahmesituationen. In den sich teils ständig wiederholenden Tätigkeiten wird bald jedem Detail Aufmerksamkeit geschenkt. Szenen, wie das Schleppen der Ziegelsteine, die Beschaffenheit von Zement oder das Handhaben der „Schlackoblocksteine“ werden minutiös, teils beinah liebevoll und poetisch beschrieben – das Schaufeln der Kohle ähnelt fast schon einer Choreografie:
Nun stichst du ein, hilfst mit dem rechten Knie nach, ziehst es zurück und verlagerst das Gewicht durch eine geschickte Wendung auf den linken Fuß, so dass kein Stückchen Kohle vom Herzblatt herunterfällt, und machst eine weitere Drehung […] – und jetzt wirfst du die Kohle in weitem Schwung vom Herzblatt hinaus in die Wolken […]. Es ist schön wie ein Tango, wechselnd spitzwinklig bei gleichbleibendem Takt. […] Und der Hungerengel fliegt mit. Er ist in der Kohle, in der Herzschaufel, in den Gelenken. Er weiß, nichts wärmt den Körper mehr als das Schaufeln, das am ganzen Körper zehrt. Er weiß aber auch, dass der Hunger fast die ganze Artistik frisst.
Herta Müller, Atemschaukel, S. 84.
Doch diese, manchmal fast heiter anmutenden Szenen, täuschen nicht darüber hinweg, wie grausam und menschenverachtend der Lageralltag gewesen ist. Wie Menschen gebrochen werden, wie Gewalttätigkeit und Brutalität herrscht, wie auf Menschen getreten wird, die längst am Boden liegen, wie sich deren wahre Natur dadurch entlarvt.
Sie erzählt aber auch von den Überlebensstrategien der Lagerinsassen, von den Versuchen, das Unerträgliche erträglich zu machen, von den Versuchen, obgleich sie entmenschlicht werden, menschlich zu bleiben. Sie erzählt vom allgegenwärtigen Hunger, personifiziert durch den „Hungerengel“, der über allem schwebt, und was er an Körper und Seele anrichtet. Der Hunger wird in all seinen grausamen Facetten beschrieben; so eindringlich, dass ein alltäglich daher gesagtes „Ich habe Hunger“ im Halse stecken bleibt.
Ganz besonders eindrücklich ist auch ihre Schilderung der Zeit nach dem Lager, der Heimkehr, nach der sich so lange gesehnt wurde, die aber letztlich keine Heimkehr bedeutet. Das Leben der Daheimgebliebenen ging weiter, der längst tot geglaubte Heimkehrer wird zum Fremdkörper in der Familie, die sich das Leben ohne ihn eingerichtet hat. Wie die vergleichsweise kurzen Lagerjahre das Leben des Protagonisten so durchdringend und allumfassend geprägt haben, ist schmerzhaft zu lesen, vor allem dann, wenn er beinah sehnsüchtig an diese Zeit zurückdenkt, die ihm fast mehr zur Heimat geworden war als die wiedergewonnene.
Unmissverständlich macht dies die Aktualität der Lektüre deutlich. Denn ob Menschen aus Krieg, Lagerhaft oder Kriegsgefangenschaft heimkehren, es sind, wenn nicht zerstörte, dann doch, um es mit Herta Müllers Worten zu sagen, „beschädigte“ Leben.
Herta Müller, die in ihren Werken oft ihre eigenen Erfahrungen in der rumänischen Diktatur unter Ceauşescu verarbeitet, wird gelegentlich vorgeworfen, Diktaturen miteinander zu vergleichen, die man nicht vergleichen könne, doch sie macht deutlich, dass es immer um das geht, was diese Regime, unabhängig von dessen Art und Herkunft, mit dem Menschen machen:
Alle Diktaturen sind dieselbe Kultur, das heißt sie sind dieselbe Unkultur und insofern hat man immer die gleichen, fast ähnlichen Dinge erlebt.
Sternstunde Philosophie, SRF Kultur, vom 2.1.2011
Herta Müller
Carl Hanser Verlag 2009
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Abbildung: “Transylvania” (Creative Commons CC0 1.0 Universal Public Domain Dedication) & Buchcover (Carl Hanser Verlag)