Künstler* Stanko Gagrčin im Gespräch: Zwischen Content-Flut und Visual Art

Seine Projekte müssen gut organisiert sein, aber nicht perfekt. Zum Großteil arbeitet er in Eigenregie, lässt sich aber den Rat seiner Freund*innen nicht entgehen. Neue Themen meidet er zwar nicht, vertieft sich jedoch immer wieder gerne in seine Leidenschaften und Leitmotive. Stanko Gagrčin (28) bietet der serbischen Kunstszene einen queeren alternativen Blick, der international immer mehr Anerkennung gewinnt, wie neulich durch die Verleihung des Prince Claus Fund 2022 Seed Award an Stanko. Mit Trends hat er eine komplizierte Beziehung, mit seinen Werken will er eine Plattform in einer Flut von Inhalten aufbauen. Heute gibt uns Stanko einen Einblick in seine künstlerische Welt.

osTraum: Auf welche aktuellen Erfolge und Projekte würdest Du unsere Leser*innen aufmerksam machen wollen?

Stanko: Das Wichtigste für mich in diesem Jahr ist die Veröffentlichung von interaktiven Installationen und Videospielen auf der Steam-Plattform. Ich möchte mit euch auch teilen, dass ich mich auf meine erste (Gruppen-)Ausstellung im Vereinigten Königreich im Mai in der Galerie Ovada in Oxford riesig freue. Außerdem kann ich meine zweimonatige Residenz im Juni und Juli dieses Jahr in Amsterdam kaum erwarten. Ich arbeite dann im Rahmen des Programms „Culture Moves Europe“ (unterstützt von Creative Europe und dem Goethe-Institut) im Studio Magla/Silaverse.

Autor*inporträt von Tanja Žarić

Ostraum: Erzähl uns ein wenig über deinen kreativen Prozess – von der Idee bis hin zur Leinwand.

Stanko: Ich möchte in erster Linie eine instinktive Verbindung mit der Arbeit haben, in dem Sinne, dass mich das Thema, an dem ich arbeite, oder die Motive, die ich verwende (visuelle/klangliche/textliche Elemente), wirklich zutiefst inspirieren. Dass nicht der Fall eintritt, dass das Werk nur in der Theorie interessant, sinnvoll oder „sozial nützlich“ klingt, aber dass ein gewisser „X-Faktor“ fehlt. Und genau diese instinktive Verbindung damit lässt mich vielleicht weitermachen und durchhalten. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, einige Sammlungen inspirierender Werke zu erstellen, auf die man später mit einer anderen Einstellung zurückkommen kann.

Es kommt vor, dass mir einige Ideen auf Reisen kommen, während ich mich in einem geistig-körperlichen „Zwischenraum“ befinde. Oder beim Lesen von Büchern, die nicht unbedingt etwas mit der Idee zu tun haben, die ich dann bekomme. Aber ich schätze, ich komme beim Lesen in eine introspektive und fantasievolle Stimmung. Dann schreibe ich diese verschiedenen Ideen in meine Notiz-App rein und „mariniere“ sie in meinem Unterbewusstsein. Bis der Moment kommt, in dem ich die Idee in einem bestimmten Medium oder thematisch-narrativen Rahmen sehen kann. Das kann passieren, wenn ich mit Freund*innen über diese Ideen spreche. Dann kann ich meine Ideen aus neuen Blickwinkeln betrachten. Oder es kommt zu einer konkreten Idee, wenn ich „gezwungen“ bin, meine Gedanken zu sammeln und in etwas Kohärentes zu formen, indem ich z.B. einen Wettbewerbsbeitrag einreiche.

Bis jetzt habe ich aber fast alles aus eigenen Mitteln finanziert bzw. durch die kostenlose (oder gering honorierte) Unterstützung meiner Mitstreiter*innen. Wenn die Idee genug gereift ist, kann ich mit der Konkretisierung beginnen. Bei Filmen z.B. mit der Kontaktaufnahme und der Auswahl von Schauspieler*innen, Locations, Kameraleuten, Szenografie, Kostümen, und bei Spielen mit der Auswahl von Mitarbeitern, Raumgestaltung, Elementen, Anschauen von Tutorials für einige technische Dinge, mit denen ich bisher noch nicht in Berührung gekommen bin, um herauszufinden, was möglich ist und wie. Es ist gut, wenn es eine externe Frist gibt, die mich dazu zwingt, das Projekt in einem realistischen Zeitrahmen abzuschließen, weil das Werk sonst endlos verändert und optimiert wird.

osTraum: Du teilst deine Kunst öffentlich mit der Welt. Auf deiner Website können wir deine Werke bestaunen und genießen. Wie entscheidest Du dich, welche Werke Du zeigst? Behältst du manchmal Projekte für Dich?

Stanko: Ich bin im Internet mit Torrents aufgewachsen. Es erschien mir nur logisch, dass Kunstwerke allen zur Verfügung stehen sollten, denn ich bin mir bewusst, wie sehr mich kostenlose Inhalte geformt haben – Filme, Musik, Serien, Dokus… 

Aber, neben der offensichtlichen Frage nach finanzieller Rentabilität und existenzieller Nachhaltigkeit für die Autor*innen dieser Inhalte geht es auch um die Einbindung eines bestimmten Autors in ein bestimmtes kreatives Ökosystem. Zum Beispiel: Ich war schon immer verärgert darüber, dass Filme möglicherweise ein paar Jahre Festivalvorführungen durchlaufen müssen, bevor sie möglicherweise irgendwo oder auf einigen obskuren Plattformen verfügbar sind (und wir sprechen, sagen wir, über die Filme meiner Kollegen aus Serbien und der Region, die mich natürlich interessiert haben, und die ich deswegen selten sehen konnte). Ich fühlte mich vom zeitgenössischen Filmemachen abgeschnitten, außer einmal im Jahr, wenn in meiner Stadt ein Filmfestival stattfand, das natürlich zu teuer für mein Schul- oder Uni-Budget war.

Aber aus der Sicht des Autors ist die Annahme seines Films bei einem „größeren“ wichtigen Festival automatisch eine Eintrittskarte zu dutzenden anderen Festivals und damit Zugang zu einem Netzwerk von Kontakten, potenziellen Geschäftsangeboten, Empfehlungen und Screening-Honoraren. Das sind also vielleicht die größten Vorteile, wenn man seine Werke hauptsächlich exklusiv Festivals zur Verfügung stellt.

Ich denke aber, dass meine Entscheidung, meinen letzten Film “Tereza’s Söhne” auf dem YouTube-Kanal von Klinika zu veröffentlichen, ein voller Erfolg war. Ich wollte ein ganz anderes Publikum erreichen, genau wie das von Klinika, um “aus meiner Blase herauszukommen” und dadurch Menschen in Serbien für queere Menschen zu sensibilisieren. Bis heute hat der Film auf dem Kanal rund 30.000 Aufrufe, und ich denke, selbst wenn er hypothetisch auf 200 Festivals gezeigt worden wäre, würde er keine 30.000 Menschen erreichen, was jedoch durch eine Plattform wie YouTube ermöglicht wird.

Neben diesen Faktoren der finanziellen Rentabilität und Vernetzung, die unterschiedliche Distributionsmodelle mit sich bringen, gibt es auch den Faktor der psychologischen Wahrnehmung des Publikums. Wenn etwas kostenlos ist, ist die Wahrnehmung des Publikums anders, als wenn man für etwas Geld gezahlt hat, insofern Kunst, für die man Geld bezahlen muss (sei es ein Eintrittspreis, oder ein Kauf) oft als besser und wertvoller wahrgenommen wird.

All that being said… In der kommenden Zeit werde ich ein neues Distributionsmodell für digitale Installationen und Videospiele ausprobieren, an denen ich gearbeitet habe: über Videospielplattformen wie Steam. Ich denke, dass diese Werke ein viel größeres, globales Publikum erreichen können, wenn sie in einem so großen „Ökosystem“ existieren, und auch potenzielle finanzielle Rentabilität und Vernetzung bieten.

Kurzfilm “Theresa’s Söhne” (Quelle: YouTube, alle Filme von Stanko Gagrčin sind auf seiner Website zu finden)

osTraum: Wir fragen uns immer was Kunst in Serbien auszeichnet. Gibt es Argumente warum Kunst in Serbien mit der globalen Bühne gleichzusetzen ist?

Stanko: Ich glaube, dass überall auf der Welt eine ähnliche Situation herrscht: Eine Kombination regionaler Einflüsse und der aktuell dominanten globalen Kultur. Als ich in Moldawien gewesen bin, leuchtete es mir total ein, in Bezug auf ihre geographische Lage und Geschichte, dass sie eine Mischung aus mitteleuropäischer klassischer und sowjetischer Architektur, sowie einem Hauch von “Mediterraner Neogotik” haben (vielleicht eine Ode an ihre “romanischen Brüder” am Mittelmeer). Die Welt ist ziemlich globalisiert, so kopierte Europa einst französische Kulturmodelle, jetzt kopiert man Amerikanische.

Als ich vor vier Jahren auf einem Flussschiff gearbeitet habe, würden wir die Donau von Deutschland, über Österreich, in die Slowakei und nach Ungarn fahren. Als ich mir die Trends auf YouTube angeschaut habe, war ich überrascht, dass es überall das selbe war: eine lokale Trap-Hip-Hop Variante, lokaler Pop und Amerikanische Superstars. Ich könnte wetten, dass die Texte ähnlich sind: Partys, Alkohol, Drogen, Rapper, die “angeben”, oder “Du hast mich betrogen”-Pop. Dass in Serbien, anderen Balkanstaaten und dem Nahen Osten mehr oder weniger eine östliche Note hinzugefügt wird ändert den Kern nicht: Wir haben 4-Minuten-Kompositionen, dessen Ziel kommerzieller Erfolg und Massenkonsum, idealerweise in Nachtclubs, ist. Selbst klassische Musiker*innen machen das, was andere klassische Musiker im Westen machen: langweilige und unhörbare Kompositionen für “gebildete Leute”.

Es besteht kein anderes kulturelles Paradigma, sodass Du etwas wahrhaftig einzigartig nicht nennen kannst. In den Niederlanden wurden Tonanlagen in bewegliche Bäume installiert (in großen beweglichen Vasen) – Das ist für mich ein wahrhaftig authentisches musikalisches Phänomen. Leider, so scheint es mir, nur in einer Stadt und nicht im gesamten Land. Oder in Mexiko, bevor man in den unterirdischen Seen schwimmt, führt einen der örtliche Schamane zu einer kleinen Steinsauna, wo alle um die Glut sitzen und melodische Gesänge des Schamanen wiederholen. Das ist für mich eine ganz andere Musikpraxis, vor allem, weil sie Teilnahme fördert, aber auch, weil sie als unmittelbares Ziel die Entgiftung des Organismus und zwischenmenschliche Synchronisation sowie Harmonisierung hatte. Aber nochmals, denke ich, dass das in verschiedenen nicht-industrialisierten indigenen Kulturen präsent ist, nicht nur in Mexiko.

Auch der Sport ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir uns an aktuelle kulturelle Muster gewöhnt haben: Warum muss jede Sportart so wettbewerbsfähig und voller Rivalität sein? Was würde passieren, wenn sletovi [Mass Games (Anm. d. Redaktion)] aus den 1920er Jahren aufleben würden, wo es um Kooperation und die gegenseitige Synchronisation in der (Tanz-)Bewegung geht?

osTraum: Du hast als Projektmanager für die Europäische Kulturhauptstadt Novi Sad 2022 gearbeitet. Wie war deine Erfahrung?

Stanko: Im Rahmen der Kulturstationen war ich Mittler zwischen Künstlern/Organisationen und den Stationskoordinatoren stadtweit bei neu eröffneten Kulturorten, mit der Idee Kultur zu dezentralisieren. Ich half beim Planen von Veranstaltungen, dann auch bei der Produktion vor Ort, aber auch Design von Szenographie, Ausstellungspavillions und Ausstellungen im Rahmen des Hauptprogramms in anderen Teilen der Stadt war alles meine Arbeit. Ebenso hatte ich die Möglichkeit internationale Ausstellungen unserer (serbischer) Künstler in Österreich zu designen und wurde dann später auch eingeladen, dort als Kustos einer Ausstellung zu fungieren. Ich arbeite weiterhin im Rahmen des Kulturstationsnetzes und ab dem nächsten Monat werde ich dort ausschließlich für Design, visuelle Identität und Videoproduktion zuständig sein.

osTraum: Du sagtest in früheren Interviews, dass Dein Hauptmotiv „Identität“ ist. Siehst Du Deine Kunst fest mit diesem Motiv verbunden oder können wir ein Projekt außerhalb dieses Motivs bei Dir finden?

Stanko: Ich mag es, instinktiv auf Ideen für meine Werke zu kommen, ohne übermäßiges rationales Kalkül. Dann versuche ich erst im Nachhinein zu verstehen, was ich geschaffen habe, was es für mich oder für ein breiteres gesellschaftliches Phänomen bedeuten kann. Die Interpretation der Werke durch das Prisma der „Identität“ ist eine von vielen möglichen Interpretationen. Vielleicht bin ich mir als eine queere Person, die im postjugoslawischen Kontext aufgewachsen ist, eher des Paradoxons bewusst, dass Identitäten etwas von Menschen Geschaffenes, Konstruiertes, aber auch ein universelles menschliches Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Selbstverständnis sind, so interpretiere ich meine Arbeiten durch diese Kategorien. Was mir an meiner Arbeit auch aufgefallen ist, ist, dass ich mich gerne mit dem Wesen des Mediums auseinandersetze, mit Herangehensweisen und Genres experimentiere.

osTraum: Basiert Deine Kunst auf der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft? Welchen Zeitraum willst Du in deinen Werken behandeln?

Stanko: Ich identifiziere mich am meisten mit Postmodernismus und Vaporwave, die oft als Bewegungen/Epochen der „ewigen Nostalgie“ beschrieben werden. Einige sagen, dass wir im Epos des „kapitalistischen Realismus“ leben und schaffen, weil wir uns nichts anderes als das, was jetzt ist (im weitesten politischen Sinne), als realistisch oder möglich vorstellen können. Ständige Rotation bestehender Muster, Erzählungen, Bewegungen, Muster aus der Vergangenheit wechseln sich ab wie Kleiderkollektionen bei Zara. Ich möchte vor allem die Atmosphäre davon einfangen. Aber auch die Verflechtungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besser verstehen, denn sie beeinflussen sich zwangsläufig gegenseitig.

osTraum: Erkläre uns doch kurz Deine Herausforderungen und was Du unternimmst um sie zu überwinden.

Stanko: Die größte Herausforderung besteht für mich vor allem darin, finanzielle Stabilität zu erlangen. Ein stabiles Einkommen aufzubauen, von dem ich nicht nur keine roten Zahlen schreibe, sondern auch sparen, in neue Kunstprojekte oder in andere Dinge im Leben investieren kann. Und das im Idealfall aus meiner primären künstlerischen Tätigkeit. Und im absoluten Idealfall, damit ich flexibel reisen und neue Städte und Länder erkunden kann. 

Was tue ich, um es zu überwinden und es zu erreichen? Ich habe eine gewisse Unentschlossenheit, die mich daran hindert, aktiver damit umzugehen, weil ich mir vorstelle, dass ich entscheiden müsste, ob ich eine hauptberufliche enge Spezialisierung innerhalb der Filmbranche oder eine ebenso hauptberufliche enge Spezialisierung Videospielbranche erlangen will. Es scheint mir, als wäre Multimedia-Kunst als Vollzeitjob nur für einen kleinen Prozentsatz der Ultra-Erfolgreichen möglich.

osTraum: Deine Kunst hat viele lokale Elemente aus Serbien und dem ehemaligen Jugoslawien. Beschränkst Du Dich manchmal in spezifischen Teilen Deiner Kunst damit Deine Werke für ein internationales Publikum verständlich bleiben? Wen hast Du im Kopf, wenn Du Dein Publikum siehst?

Stanko: Ich muss zugeben, dass ich nicht darüber nachgedacht habe, wie viel historischer Kontext nötig ist, um einige meiner Arbeiten zu verstehen. Wenn ich mir mein Publikum vorstelle, sehe ich Menschen von hier und aus allen Teilen der Welt, die offen sind für eine bestimmte Sensibilität, einen bestimmten Geschmack, eine bestimmte Weltanschauung. Aber auf jeden Fall denke ich, dass unsere Wahrnehmung selbst bei klassischen realistischen Ölgemälden aus dem 19. Jahrhundert bereichert und vertieft wird, wenn wir ein wenig über diese Zeit, den Künstler, über die Bedeutung der Symbolik von Früchten und Tieren lesen, Pflanzen, Farben, Sozialgeschichte – die Klassensituation, in der dieses Bild entstanden ist, etc. Ich denke also, dass es für jemanden in Ordnung ist, meine Arbeit hauptsächlich auf der Ebene der Atmosphäre und der Handlung zu erleben, und dann ermutigt es vielleicht, mehr über ein bestimmtes Thema zu recherchieren.

Stanko lebt und arbeitet zurzeit in Novi Sad, für seinen weiteren Lebensweg sucht er nach Möglichkeiten im Ausland zu arbeiten. Wir alle von osTraum danken Ihm herzlich für seine Bereitschaft zu diesem Interview und wünschen ihm auf seinem weiteren Lebensweg, alles Gute.

Kurzfilm von Stanko Gagrčin: “SOS Schnitten” (Quelle: YouTube)

Das vollständige Interview in Serbischer Sprache (lateinische Schreibweise) kann frau*man hier nachlesen:


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