Die 7 Filme der Tschechoslowakischen Neuen Welle

Die gesamte europäische Filmlandschaft hat in den 1960er Jahren eine Zäsur erlebt: Der etablierte Film, welcher die bisherige Filmproduktion dominierte, wirkte für viele Filmschaffende zu steif, zu vorhersehbar, zu konventionell. Regisseur*innen begannen, sich in ihren Filmen bewusst von der Ästhetik und den Darstellungsweisen von jenen Filmen zu distanzieren. Besonders in der unter sowjetischer Kontrolle und Einfluss stehenden sozialistischen Tschechoslowakei begannen Regisseur*innen, sich in ihren Filmen bewusst von der Ästhetik und den Paradigmen des institutionell angeordneten sozialistischen Realismus zu lösen, um somit die kitschigen und von sowjetischem Heldenpathos durchdrungenen filmischen Werke der vorherigen Generationen abzulösen. Die gesamte filmische Bewegung kann als der Versuch einer Befreiung verstanden werden: junge Regisseur*nnen stellten filmisch ihre Visionen der tschechoslowakischen Gesellschaft und deren Werten dar und forderten eine Immunisierung von Einflüssen der sozialistischen Regimes auf das gesellschaftliche Leben.

Die als Československá nová vlna (de.: die Tschechoslowakische Neue Welle) bekannte filmische Bewegung umfasst viele Regisseur*innen, wobei Věra Chytilová, Jaromil Jireš, Miloš Forman und Jan Němec zu den prägendsten gehören. Anders als bei den anderen, westeuropäischen Neuen Wellen hatte die Nová Vlna mit Zensur zu kämpfen. Verbote von Filmen bis hin zu Arbeitsverboten waren Alltag der Regisseur*innen. Die Repressionen waren allgegenwärtig, wodurch kreative allegorische Verschlüsselungen und neue filmische Darstellungsformen von starker Bedeutung waren, um die Zensur umgehen zu können.

OsTraum stellt euch nun die 7 essentiellsten filmischen Werke der Československá nová vlna vor, einer filmischen Bewegung, welche aufgrund ihrer Radikalität und ihrer avantgardistischen Qualitäten einen enormen hohen künstlerischen Wert hat, jedoch im filmgeschichtlichen Diskurs bisher zu wenig Beachtung bekam.

7. Perličky na dně (Perlen auf dem Meeresgrund) (1965/1966)

Regie: Vêra Chytilová, Jan Němec, Evald Schorm, Jiří Menzel, Jaromil Jireš

„Perličky na dně“ ist ein aus fünf Episoden bestehendes filmisches Werk, wobei jede Episode von anderen, für die Nova Vlná essentiellen Regisseur*innen und Drehbuchautor*innen konzipiert wurde. In „Perličky na dně“ werden Außenseiter der Gesellschaft porträtiert. Den Protagonist*innen, die sich jenseits der von sozialrealistischen Heldenpathos durchdrungenen Idealisierungen befinden, wird eine menschliche Komponente zugewiesen. Sie eint das Gefühl der Entfremdung, welcher sie jedoch mit Humor begegnen. „Perličky na dně“ kann als das Manifest der Programmatik der Nová Vlna verstanden werden: Humanismus statt realsozialistischer Heroisierung.

6. Postava k podpírání (Joseph Kilian) (1964)

Regie: Pavel Juráček und Jan Schmidt

In Pavel Juráčeks und Jan Schmidts „Postava k podpírání“ verfolgt die Kamera den Protagonisten Jan Herold auf seiner Odyssee, seinen Kameraden Joseph Kilian wiederzufinden und eine Katze zurückzugeben, die er von einem Katzenverleih-Serviceunternehmen entliehen hat, welches am darauffolgenden Tag unauffindbar zu sein scheint. Jan Herold bewegt sich in Sphären des bürokratischen Irrsinns und dem Gefühl der Entfremdung, wobei ein Unterton der Absurdität den filmischen Gestus und die kreierte Atmosphäre dominiert. Starke Parallelen zu Franz Kafkas „Der Prozess“ und die werksimmanente kafkaeske Atmosphäre basieren auf einem wesentlichen Charakteristikum innerhalb der Nová Vlna, nämlich der Wiederentdeckung Kafkas, dessen literarisches Werk zur damaligen Zeit weitgehend verboten war. Die typischen Merkmale der Entfremdung und der Fremdherrschaft trafen den Nerv der reformwilligen Kulturschaffenden in der Tschechoslowakei, welche diese kafkaesken Inhalte als über der Zeit stehende Allegorien auf den gesellschaftspolitischen Status quo verstanden und in ihr filmisches Schaffen integrierten.

5. Pytel Blech (Ein Sack Flöhe) (1962)

Regie: Věra Chytilová

Vera Chytilovas Debüt als Regisseurin. In „Pytel Blech“ wird das Leben in einem Fraueninternat einer Textilfabrik dokumentiert. Junge Frauen offenbaren in einer Atmosphäre des Vertrauens untereinander und einer Feindseligkeit gegenüber den Kontrollinstanzen in Form von den Erzieherinnen ihr Inneres. Die Themen ihrer Unterhaltung variieren zwischen dem Bedürfnis nach sexueller Aufklärung, dem Interesse an der westlichen Kultur und der Frage nach der Existenz Gottes. Die Kongruenz zwischen der Sichtweise der Protagonistin der Kamera entfaltet einen radikal subjektiven Zugang zu der jungen Frauengruppe. Die kommentierenden inneren Monologe der Protagonistin Eva komplettieren Chytilovás explorativen Ansatz, Intimität und Subjektivität mittels eines neuen filmischen Gestus zu kreieren.

4. Spalovač Mrtvol (Der Leichenverbrenner) (1968)

Regie: Juraj Herz

Juraj Herzs „Spalovač Mrtvol“ stellt einen filmischen Versuch der Aufarbeitung der Rolle von Mitläufern und somit Mittätern an den NS-Verbrechen aus der Perspektive des Prager Krematoriumsangestellten Karl Kopfkringl dar. Einsetzend kurz vor der Nazi-Besatzung Prags begleitet der Film den Protagonisten und enthüllt zunehmend, wie die anfänglich opportunistische Gesinnung Kopfkringls immer mehr einer masochistischen Lust an destruktiver Vernichtung des Lebens weicht. Nebst einer ausdrucksstarken und verstörenden Story überzeugt der Film von Juraj Herz mit expressiven visuellen Filmsequenzen.

3. O slavnosti a hostech (Vom Fest und den Gästen) (1966)

Regie: Jan Němec

In Jan Němecs „O slavnosti a hostech“ wird eine Gruppe junger Menschen während einem Picknick von ominösen Männern beschattet. Ein Mann taucht aus dem Nichts auf und lädt die Picknickgesellschaft zu einer Geburtstagsfeierlichkeit in einer idyllischen Naturszenerie ein. Doch die Ablehnung der Einladung durch einen Mann resultiert in einer Menschensjagd, bei welcher die gesamte Geburtstagsgesellschaft den abtrünnigen Außenseiter verfolgt. Durch dechiffrierte Aussagen wird in „O slavnosti a hostech“ der totalitäre Mechanismus karikiert; eine Parabel gegen das politische System und eine Anspielung auf die damalige gesellschaftspolitische Situation.

2. Křik (Der Schrei) (1964)

Regie: Jaromil Jireš

In „Křik“ dokumentiert Jaromil Jireš fragmentarisch und pointiert, wie das Prager Paar Ivana und Slávek der Geburt ihres Sohnes entgegenblicken. Der Film beschäftigt sich substanziell mit der Analyse und Dokumentation der gesellschaftspolitischen Situation und der Mentalität, in welche der Sohn hineingeboren wird. Momentaufnahmen werden als Impressionen in Form eines Bewusstseinsstroms montiert, welcher eine poetische Wirkung entfaltet. Jireš skizziert durch diesen avantgardistischen, poetisch-essayistischen Ansatz das immaterielle Lebensgefühl der damaligen Gesellschaft.

1. Sedmikrásky (Tausendschönchen) (1966)

Regie: Věra Chytilová

In Chytilovás „Semikrásky“ kommt der avantgardistische Ansatz der Nová Vlna wie in keinem anderen Film zum Ausdruck. Die Protagonistinnen Marie I und Marie II haben sich der Anarchie ergeben: Losgelöst von etablierten Konventionen besteht ihr Leben aus dem Folgen des reinen Lustprinzips: Fressorgien auf Kosten älterer Herren, die Destruktion von Gegenständen und das Hinterlassen von Chaos. Der Film changiert zwischen Nihilismus und Hedonismus, zwischen Lust und Destruktion. Auch die Montage und die Form tragen dazu bei, dass sich Sedmikrásky als anarchistisch-dadaistisches Werk einordnen lässt.

Věra Chytilová selbst bezeichnete ihr filmisches Werk als burleskes philosophisches Manifest. Die allegorische Vielschichtigkeit offenbart vielerlei Deutungsarten: Eine Hymne auf die Abkehr von Normativität und ein feministisches Manifest.


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Titelbild: Screenshot aus dem offiziellen Trailer Sedmikrásky (Tausendschönchen) (1966)

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