Im Februar 2021 veröffentlichte osTraum eine Rezension des Gedichtbandes Lirika – einer Publikation von aktuellen Dichter*innen des Untergrunds in Russlands. Die Dichter*innen pflegten auch seit Jahren eine Tradition oder haben sie wiederbelebt – öffentliche und kostenlose Lesungen am Denkmal des Dichters Wladimir Majakowski in Moskau. Majakowski war einerseits ein Dichter des Proletariats, anderseits fürchtete er sich auch nicht davor, die kommunistische Partei der UdSSR in seinen Gedichten zu kritisieren. Die Umstände von Majakowskis Tod wurden zu einem Gegenstand anhaltender Kontroversen. Es schien, dass der Abschiedsbrief zwei Tage vor seinem Tod geschrieben worden war. Bald nach dem Tod des Dichters wurden Lilya und Osip Brik plötzlich ins Ausland geschickt. Die aus seinem Körper entfernte Kugel passte nicht zum Modell seiner Pistole, und seine Nachbarn sollen später gesagt haben, sie hätten zwei Schüsse gehört. Zehn Tage später wurde der Beamte, der im Fall des Selbstmords ermittelte, getötet.
Wie auch Majakowski, äußern die Dichter*innen um Lirika Kritik in ihren Werken. Es sind letztendlich Worte und keine Gewehrkugeln. Am 25. September trug Artjom Kamardin bei den Majakowski-Lesungen seine Gedichte vor. Eins der Verse war:
„Ruhm der Kiewer Rus’,
Neu-Russland – du sollst blasen“
Im Vorfeld der Lesung wurde zu einer „Anti-Mobilmachung“-Aktion aufgerufen. Weniger als einen Tag danach wurde seine Wohnung in Moskau von Spezialeinheiten gestürmt. Zwei weitere Aktivist*innen – Alexandra Popova und Alexander Menyukov – befanden sich in der Wohnung. Alle drei wurden festgenommen. Anwälte hatten anfangs keinen Zugang zu den Dichter*innen. Im Polizeirevier wurde Kamardin von den Dienern der Regierung zusammengeschlagen und ihm wurde eine Kurzhantel in den Anus geschoben. Anschließend wurde er gezwungen, sich für seine Verse zu entschuldigen. Auch Alexandra Popova, so berichtet Novaya Gazeta Europe, wurde von den Polizisten misshandelt – ihr wurden Sticker mit Sekundenkleber ins Gesicht geklebt; auch wurde versucht, ihr mit Sekundenkleber den Mund zuzukleben; sie wurde getreten; ihr wurden Haare ausgerissen; eine Gruppenvergewaltigung wurde ihr von fünf Beamten angedroht.
„Stiftung von Hass oder Feindschaft durch Gewalt oder Androhung von Gewalt“ lautet die offizielle Anschuldigung. Die Beleidigten sollen dabei die “freiwillig bewaffneten Formationen der Volksrepubliken Donezk und Lugansk” sein. Das russische Gesetz sieht in dem Fall eine Höchststrafe von bis zu 6 Jahren Haft vor. Kamardin wurde am 28. September in Untersuchungshaft überführt, die bis zum 25. November andauern wird. Danach wird das endgültige Urteil verkündet. Vor anderthalb Jahren schrieb osTraum in der Lirika-Rezension über Kamardins Gedichte:
Kamerad sendet Wellen, dafür gibt es keine Worte,
Meine Revolution, dein Leben, mein Rock’n’Roll
Und wieder der Tsar, aber ein andrer. Seiten auf Null.
Im Ausweis die Bereitschaftspolizei mit einem Schlagstockkondom.
Der Seemann aus dem Bergbau schreitet voran, als wäre er am Leben.
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Titelfoto © osTraum
ich zögere, ein “like” zu drücken. Zu furchtbar ist das Ganze. Wohin bewegt sich Russland?- Das ist nicht das Russland, das ich kannte, Das ist eine furchtbare Fratze, die Putin und seine Verbrecherbande daraus macht. Gibt es Hoffnung?- Die Hoffnung liegt auf den Poeten!
Es ist sehr verständlich, dass sich ein Like bei dem Thema unpassend anfühlen kann. Es ist auch nicht das Russland, das wir aus eigener Erfahrung kennen. Die Menschen machen das Land und noch ist es schwer zu sagen, was uns in der nächsten Zeit erwartet. Angesichts der Geschehnisse der vergangenen 8 Monate (natürlich auch der vergangenen 8 Jahre) ist die Hoffnung auf positive Nachrichten sehr surreal geworden.
Das macht mich traurig und wütend zugleich.