Marta, die Tochter von Artur Klinaŭ, wird am Vorabend der Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 verhaftet. Sie hat als unabhängige Wahlbeobachterin vor einem Minsker Wahllokal aufgepasst, dass keine zusätzlichen „richtigen“ Stimmzettel in die Wahlurnen gesteckt wurden. Der oppositionelle Schriftsteller und Künstler Klinaŭ hofft, dass seine Tochter mit einer Geldstrafe davonkommt, doch er weiß auch, dass sie sicher nicht vor Ende der Wahl freigelassen wird. Von seinem Haus aus in den Wäldern nahe der litauischen Grenze macht er sich auf den Weg nach Minsk, um Marta in den dortigen Gefängnissen zu suchen.
Wie Klinaŭ den Tag der Präsidentschaftswahl und die großen Proteste in den Tagen danach erlebt, hat er in einem dokumentarischen Journal festgehalten. „Acht Tage Revolution“ ist ein intensives, erschütterndes Protokoll des Aufstands gegen Lukaschenka. Klinaŭ verbindet seine persönlichen Beobachtungen mit einer allgemeinen Analyse der politischen Lage und lässt dabei auch viele andere Stimmen zu Wort kommen. Er dokumentiert verschiedene Protestaktionen – z. B. die Frauenmärsche und Streiks in verschiedenen Branchen –, aber auch Augenzeugenberichte von Menschen, die während der Proteste verhaftet wurden. Diese Berichte sind furchtbar zu lesen, denn es sind Schilderungen von schwerer Folter und Polizeigewalt, die von gezielten psychischen und physischen Demütigungen über schwere Misshandlungen bis zum Verstümmeln und Töten reichen. Marta bleibt das Schlimmste erspart, sie kommt nach “nur” wenigen Tagen Arrest wieder frei.
Die Corona-Pandemie und die Wahlfälschung
Klinaŭ blickt in seinem Text nicht nur auf die aktuellen Ereignisse, sondern gibt einen Rückblick auf die 26 Jahre von Lukaschenka-Diktatur. Er analysiert dessen Fehleinschätzungen und strategischen Fehler, die dazu geführt haben, dass die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die „jahrelang im Verborgenen gegärt hatte“ nun offen zutage trat:
„Die Pandemie riss den Deckmantel weg, und die Gesellschaft war schockiert“
schreibt Klinaŭ. Lukaschenka hatte sich im Umgang mit dem Corona-Virus ausgesprochen dumm und überheblich verhalten, er leugnete die Gefahr und war nicht bereit, Fehler einzuräumen. Das Fass zum Überlaufen brachte dann die Präsidentschaftswahl, bei der es das Regime mit der Wahlfälschung zu weit trieb. Das offizielle Ergebnis von 80 % für Lukaschenka war von der Realität meilenweit entfernt. Schätzungen gehen von höchstens 20-25 % für den damals amtierenden Präsidenten aus. Für Klinaŭ war das eine eindeutige Provokation:
„Das Regime verhöhnte nicht einfach schamlos den gesunden Menschenverstand, es spuckte den Wählerinnen und Wählern offen ins Gesicht.“
Die namenlosen Diktatoren
Der Name Lukaschenka kommt in Klinaŭs Journal nicht vor. Wann immer er über den Diktator und dessen Herrschaft schreibt, nimmt der Text eine künstlerische, bildhafte Form an. Aus Lukaschenko wird der „Batka“, eine Märchenfigur, die über ihr Reich herrscht. Batka bedeutet Väterchen – ein passender Spitzname für Lukaschenka, der wie „ein Zweitvater in jeder Familie“ immer mit am Tisch sitzt, dessen Blick man sich nicht entziehen kann und an den man sich wohl oder übel gewöhnen musste, der sich auch selbst seit Jahrzehnten als Vater der Nation sieht. Warum genau, blieb immer unklar. Klinaŭ lässt den Batka ein riesiges „Gemälde mit dem Titel Stabilität“ malen, auf dem sich das Rot und Grün der belarussischen Flagge zu verschiedenen Brauntönen mischen.
Die Gegenfigur zum Batka ist der „Starze“ im Kreml, Vladimir Putin. Er arbeitet an einem „Triptychon mit dem Titel Größe“ – in der Mitte das russische schwarze Quadrat, eine träge Masse, in der kaum Nuancen erkennbar sind, daneben „der braune Batka-Ziegel“ und der aus Blau und Gelb zusammengemischte grüne „ukrainische Rhombus“. Klinaŭ ist überzeugt, dass es Putins Plan ist, auch Belarus zu annektieren, und er deswegen ein Interesse daran hat, Lukaschenkas Regime zu destabilisieren. Die verhafteten Gegenkandidaten in der Präsidentschaftswahl hält Klinaŭ für Männer des Kreml, die Lukaschenka in die Ecke drängen und gleichzeitig einen Drift nach Europa verhindern sollten. Den Protesten steht er deshalb anfangs skeptisch gegenüber, aber sieht schließlich ein: Egal, was der Auslöser war, der Aufstand hat eine Größe und Dynamik entwickelt, mit der niemand gerechnet hat und die auch ganz und gar nicht im Interesse von Putins Regime sind.
Repression und Stillstand?
Klinaŭs Perspektive ist insofern interessant, dass er als Oppositioneller zwar gegen Lukaschenka und letztlich für die Proteste ist, aber selbst nicht Teil davon. Er gehört nicht zu denjenigen, die sich auf den Straßen den Polizeiketten entgegenstellen, und blickt mit einer gewissen Distanz auf das Geschehen, ohne sich auf die Seite des Regimes zu schlagen. Seine Skepsis betrifft nicht nur die Rolle des Kreml, sondern auch den Zeitpunkt des Aufstandes. Er hält die Revolution für verfrüht und glaubt nicht, dass sie das Regime stürzen wird, sondern vielmehr „eine lange Phase von Repression und Stillstand“ folgen wird. Damit scheint Klinaŭ leider recht behalten zu haben.
Trotz dieser Zweifel zeigt sich Klinaŭ in seinen Aufzeichnungen beeindruckt von den Ausmaßen der Proteste und es stimmt ihn optimistisch, wie viele Menschen aus allen Bereichen der Gesellschaft sich anschließen, sogar „Leute, die dem Regime jahrelang gedient und dafür zahlreiche Privilegien erhalten hatten“. Er ist überrascht vom Ausmaß der Unzufriedenheit der Bürger*innen und ihrer Bereitschaft, sich den Sicherheitskräften entgegenzustellen. Es ist wohl auch eine Generationenfrage:
„Wahrscheinlich hatte ich mich an das Warten gewöhnt. Doch ihre Generation wollte nicht länger warten“
schreibt Klinaŭ und meint damit auch den Aktivismus seiner Tochter.
Revolution und Konterrevolution in Belarus sowie Russlands geografische Machtbesessenheit
Mehr als die Proteste und ihre Ursachen stehen allerdings die Reaktionen des Regimes im Fokus von „Acht Tage Revolution“. Warum reagierte es mit ungekannter Brutalität? Klinaŭ glaubt, dass es zuallererst überfordert war: „Das Regime war erstmals mit etwas konfrontiert, was es nicht kannte“, nämlich Frauen und Rentner*innen, die Lukaschenka wütend „Geh weg!“ zuriefen. Nach der anfänglichen Überraschung folgte der irrationale Zorn des Diktators auf sein Volk, weil es ihn nicht mehr liebt.
„Es war die Wut des prügelnden Ehemanns, der von seiner Frau verlassen wird, mit der er 26 Jahre verbracht hat“
So wandelte sich die „postmoderne Diktatur“, die „als Demokratie erscheinen möchte“ und deshalb bestimmte Standards wahrt, zu einer ganz gewöhnlichen Diktatur, „tumb, sinnlos und grausam“, ohne Zwischentöne.
Artur Klinaŭs Schilderungen in „Acht Tage Revolution“ sind gleichzeitig kluge Analyse und sprachgewaltige Literatur. Allein schon der Prolog schafft es auf wenigen Seiten, das Leben in der Diktatur mit seinen Widersprüchen beeindruckend greifbar zu machen. Klinaŭ zeigt Belarus im August 2020 als ein Land zwischen hoffnungsvoller Aufbruchsstimmung und brutalen Repressionen. Gleichzeitig weist vieles in seinem Text in die Gegenwart: Die Konterrevolution in Belarus, die bereits erkämpfte Freiheiten wieder unterdrückt hat, und Russlands brutale Bemühungen, die eigenen Staatsgrenzen zu erweitern.
Artur Klinaŭ
Acht Tage Revolution
Ein dokumentarisches Journal aus Minsk
Aus dem Russischen von Volker Weichsel und Thomas Weiler
2021 Suhrkamp
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