Nach IC3PEAK, Vladimir Nabokov und RIN kehrt auch osTraum der Hauptstadt den Rücken: Ein oppositionelles selfmade Dark Electro Duo aus Russland, ein deutsch-kroatischer Hip-Hop-Star aus Baden-Württemberg und ein Exil-Autor, der in die Geschichte eingegangen ist und in seiner Heimat verteufelt wurde. Sie alle verbindet die Migrationserfahrung, ob innerhalb eines Landes oder auf globaler Ebene, und die Abkehr von der Großstadt.
IC3PEAK: von Moskau aufs Land
Shooting Stars IC3PEAK leben seit Jahren in einer Siedlung bei Moskau, zwischen Wäldern und Feldern. In Moskau werden sie von zu vielen Geschehnissen von ihrer wirklichen Arbeit abgelenkt – Musik schreiben, produzieren und diese eigenständig mit Streamings und Videos in die ganze Welt bringen. Die Videos drehen sie übrigens auch zwischen Wäldern und Feldern oder bauen sich Moskau per Green Screen ins Video rein. So ist eins ihrer berühmtesten Videos entstanden, in dem sie das aktuelle und anhaltende Verhalten russischer Regierung kritisieren – ein Verhalten, das sich nur Unsterbliche leisten können oder Wesen, die nicht mal vor dem Tod Respekt haben.
RIN: Bietigheim-Bissingen statt FFM
Renato Simunovic aka RIN bleibt seinem Heimatort Bietigheim-Bissingen treu, auch wenn er mittlerweile locker die Hanns-Martin-Schleyer-Halle in Stuttgart mit 15,5 oder die Max-Schmeling-Halle in Berlin mit rund 12 Tausend Zuschauer:innen füllt. Um ein Stern auf dem deutschen Hip Hop Himmel zu sein, ist die Anmeldung in Neukölln oder FFM längst keine Pflicht mehr. Seine Heimatstadt gibt ihm Geborgenheit, Freiraum für Kreativität und Privatsphäre. Klar, wissen die Anwohner:innen, dass eine:r der gefragtesten Rapper:innen Deutschlands in der Nachbarschaft wohnt, doch zumindest seinen Interviews nach, ist es auch der Grund, warum er in Ruhe gelassen wird.
Nabokov: Moskau-Krim-London-Berlin-Paris-Prag-New-York-Montreux
Vladimir Nabokov gilt nicht nur als einer der einflussreichsten Autor:innen des 20. Jahrhunderts, sondern auch als einer der umstrittensten – vor allem in der Sowjetunion. Seine Werke waren dort lange Zeit nur auf dem Schwarzmarkt erhältlich. Allerdings war die UdSSR zu dem Zeitpunkt auch keine Heimat mehr für die Familie Nabokov. Der gerade mal 18-Jährige floh mit seiner Familie 1917-1922 von der kommunistischen Revolution über die Krim nach London und dann nach Berlin, um der Verhaftung und im schlimmsten Fall dem Todesurteil aufgrund seiner Abstammung aus der Aristokratie zu entgehen. In Berlin verkehrte Nabokov vor allem in Kreisen russischsprachiger Intellektueller in Grünewald, Wilmersdorf, Charlottenburg und Schöneberg. Sein Verhältnis zu der Stadt war zwiespältig – es gab aus seiner Sicht viel Positives, aber auch viel Unangenehmes. 1926 schrieb er an seine Ehefrau Vera und sprach womöglich einigen Berliner Expats anno 2022 aus der Seele:
Berlin verlassen, Deutschland verlassen, und mit dir in den Süden Europas gehen. Mit Schrecken denke ich an einen weiteren Winter hier. Von der deutschen Sprache wird mir übel – ein Leben allein von Lichtreflexionen der Straßenlaternen auf dem Bürgersteig ist doch nicht möglich – neben diesen Reflexionen, blühenden Kastanienbäumen und den lokalen Sehschwachen, die von engelartigen Hunden geführt werden, gibt es auch den jämmerlichen Ekel, die derbe Langeweile Berlins, den Geschmack einer verdorbenen Wurst und selbstzufriedener Hässlichkeit. Du verstehst es genauso gut wie ich. Ich würde jede abgelegene Provinz in jedem anderen Land Berlin vorziehen.
Wegen des Nationalsozialismus setzte die Familie ihre Flucht 1936 fort. Mit Zwischenstationen in Paris und Prag ging die Familie letztendlich 1940 nach New York City. Anfang der 1960-er Jahre ging dann Vladimir Nabokov nach Montreux am Genfersee, wo er bis 1977 lebte und auch beigesetzt wurde. Der Vater Nabokovs starb 1922 in Berlin, seine Mutter 1939 in Prag.
osTraum: from the capital to The Länd
Wozu also das Ganze? Alle drei Geschichten sind natürlich 100 % osTraum-Themen, doch es gibt da noch etwas anderes… Das osTraum-Gründungs-Duo Maria Gerasimova & Aleksej Tikhonov hat sich was getraut und ist von Berlin nach Offenburg gezogen. Nein, nicht nach Offenbach – nach Offenburg. Die Stadt, so ziemlich genau zwischen Baden-Baden und Freiburg und eigentlich noch näher an Straßburg gelegen, ist ab jetzt der neue Standort des osTraum Journals. Dass Offenburg der Gründungsort und immer noch eins der wichtigsten Standorte des Burda Verlags ist, ist reiner Zufall… noch hat man osTraum nicht aufgekauft. Die Aufarbeitung des Begriffs Ostraum als osTraum hat dann genau hier doch irgendwie einen symbolischen Wert. Jedenfalls ist das Gründungsduo nicht komplett aus Berlin weg – immer wieder kommen wir unsere Familie, Freund:innen und Kolleg:innen besuchen bzw. hat Aleksej seine wissenschaftliche Arbeit in der Slawistik der Humboldt Uni nicht aufgegeben und ist noch öfter in Berlin. Maria hat aber in Baden-Württemberg eine Chance bekommen, die sie sich nicht entgehen lassen konnte, und so wurde die Re-Lokalisierung schnell beschlossen. Zufällig fiel die Wahl aus geografischen bzw. logistischen Gründen auf Offenburg als einen belebten Verkehrs- und Handelsknotenpunkt der Region nahe der französischen Grenze. In Offenburg erhofft sich das Duo, mehr Zeit in osTraum zu investieren und es von dem meistgelesenen deutschsprachigen Online Medium über die Kulturen Ost-, Mittel-, Südosteuropas, des Baltikums, Kaukasus und Zentralasiens auf das Niveau eines professionellen Portals zu bringen, auch mithilfe des unternehmerischen Standorts in The Länd. Die zufällige Wahl des Standorts scheint im Nachhinein immer weniger zufällig zu sein. Stay tuned!
*Der Beitrag wurde am 20.2.22 geschrieben und am 27.2.22 veröffentlicht
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