Georgs Avetisjans: Heimat, Vaterland und Mutterland

Wenn die Fotografie Geschichten erzählt und gleichzeitig das Mittel der Identitätssuche ist: Das sind die Fotoserien von Georgs Avetisjans. Sie schweben zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Für “Motherland. Far Beyond the Polar Circle” reiste Georgs nach Igarka, eine Kleinstadt in Sibirien, Russland, um die Vergangenheit seiner deportierten Großmutter zu erkunden. In „Krunk. The crane that flew over the Fatherland“ versucht er die Verbindung zu Armenien, der Heimat seines Vaters, wieder zu finden. Georgs bezeichnet sich als „Latvian-Armenian“. Er wurde in Riga geboren, lebte in den USA und in Großbritannien, seine Fotografien wurden in vielen europäischen Ländern ausgestellt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. osTraum sprach mit dem Fotografen über die Wichtigkeit von persönlichen Aspekten in der dokumentarischen Fotografie, über die Suche nach den eigenen Wurzeln und die unabhängigen Foto- und Künstlerinitiativen in Lettland.

Homeland, Fatherland und Motherland

Die Heimat, das Vaterland und das Mutterland. Diesen drei komplexen Welten widmet sich die Foto-Trilogie von Georgs: „Motherland. Far Beyond the Polar Circle“, „Krunk. The Crane that flew over the Fatherland“ und „Homeland. The Longest Village in the Country“.

Die Idee der Trilogie ist, dass sich jedes Kapitel unabhängig voneinander mit den Auffassungen und Bedeutungen von Homeland, Fatherland und Motherland aus einer sehr persönlichen und autobiografischen Perspektive beschäftigt.

Für das „Motherland“-Projekt war es deswegen wichtig, Igarka zu besuchen: Dorthin wurde Georgs‘ Großmutter aus Lettland deportiert und in diesem Ort wurde auch seine Mutter später geboren. Diese persönliche Verbindung zu dem Ort hat die Idee für das Projekt und seinen Namen gegeben: „Da Igarka die Stadt war, wo meine Mutter geboren wurde, ist so der Gedanke entstanden, dem Projekt den Namen „Motherland“ zu geben“.

In Krunk. The Crane that flew over the Fatherland“ geht es dagegen nicht nur um einen geografischen Ort, sondern um ein komplexes Narrativ. Der Name der Serie geht auf zwei wichtige Begriffe zurück: „Fatherland“ und „Crane“.

Fatherland“ bezieht sich auf meinen Vater, die armenischen Wurzeln und die Geschichte des Landes, „Crane (Krunk)“ steht für die armenische Geschichte, Migration, mein physisches und emotionales Wiederfinden, sowie die armenische Diaspora und ihre Verteilung überall auf der Welt.

Eine dritte Konnotation ist der Film von Miloš Forman „One Flew Over the Cuckoo’s Nest“ (1975), den Georgs Vater besonders mochte.

Das Projekt „Homeland. The Longest Village in the Country“ ist Kaltene gewidmet: Hier geht es um den Ort, in dem Georgs aufgewachsen ist und wo sein Vater einst ein Haus für die Familie bauen wollte. In Kaltene, einem kleinen Fischerdorf in Lettland, verbrachte der Künstler seine Kindheit, was diesen Ort mit Erinnerungen und Nostalgie erfüllt.

Fatherland: Armenien und die Armenische diaSpora in Georgien und Lettland

„In meinem Projekt reiste ich durch die Orte, die die Migrationsgeschichte der Familie meines Vaters darstellten. Ani ist eine zerstörte mittelalterliche armenische Stadt auf dem früheren armenischen Territorium, ein Knotenpunkt diverser Handelsrouten. Die zahlreichen religiösen Gebäude, Paläste und Festungen der Stadt gehörten damals zu den fortgeschrittensten technischen und künstlerischen Konstruktionen der Welt. Auf ihrem Höhepunkt war Ani eine der weltweit größten Städte. Kars – eine Stadt ebenfalls auf dem früheren armenischen Territorium – die Heimat meines Urgroßvaters. In Armenien entdeckte und fragte ich Armenier und besuchte die wichtigen Orte für das armenisches Volk (den Sewansee, Oshakana, Ararat, Garni, Geghard, Khor Virap, Echmiadzin, Noravank, Tatev). In Georgien entdeckte und fragte ich die armenische Diaspora, meine Verwandten, die Freunde meines Vaters und besuchte die wichtigen Orte für meinen Vater, vor allem in Tiflis. In Lettland entdeckte und fragte ich ebenso die armenische Diaspora, meine Verwandten, die Freunde meines Vaters und besuchte die wichtigen Orte für meinen Vater, vor allem Riga und Kaltene“.

„Krunk. The Crane that flew over the Fatherland“

Die Inspiration für „Krunk. The crane that flew over the Fatherland“ bekam Georgs unter anderem von den Diana Markosians Projekten „1915“, „Inventing my Father“ und „Mornings“: „2017 half sie mir mit einigen Ratschlägen bei diesem Projekt. Als ich ein der Gewinner von Magnum Photos Graduate Photographers Award“ im selben Jahr wurde, konnte ich einen der Magnum Fotografen für die Mentoring-Sessions auswählen, und ich habe sie gewählt.“

Auch andere Werke wie das Projekt von Marijn Kuijper über den Verlust seines Vaters „Regarding you and Me“ und „Kavkaz“ von Thomas Dworzak halfen bei der Vorbereitung, waren allerdings doch etwas entfernt von Georgs‘ Idee: „… das war nicht so nah an dem, was ich gemacht habe. Als Vorbereitung und Recherche für dieses Projekt habe ich mich viel mehr mit der armenischen und auf Armenien bezogenen Literatur als mit der Fotografie auseinandergesetzt“.

Motherland: Eine nostalgische Stadt in der Polarregion

Das Ergebnis stimmt nicht immer mit unseren Erwartungen überein, und so ging es auch Georgs nach seiner Reise nach Igarka: „Ich denke, ich ging dahin mit bestimmten Vorurteilen und falschen Ideen, aber das war auch der Grund, dahin zu fahren. Vor meiner Reise habe ich erwartet, einen Ort zu finden, der weniger zivilisiert ist und mit den Heizungs- und Elektrizitäts-Unterbrechungen zu kämpfen hat. In diesem Sinne war ich auf alles befasst. Ich habe mich mit den Werkzeugen, mobilen Lichtquellen, Akkus und Kleidung für -50 Grad und ähnlichem Zeig ausgerüstet. Ich habe erwartet, auf eine lokale Community zu treffen, die mehr misstrauisch zu meinem Besuch wäre und mich dementsprechend schlechter behandeln würde, als es tatsächlich dann der Fall war. Also lag ich falsch. Die Leute im fernen Norden sind sehr gastfreundlich und warmherzig – sie haben mich sehr gut willkommen geheißen. Jetzt warten sie, dass ich sie mal wieder besuche. Vielleicht war ich nicht besonders von der Atmosphäre überrascht, die mich an die 1990er in Lettland erinnerte, an die Zeit, als Lettland ihre Unabhängigkeit durch den Kollaps der Sowjetunion wieder erlangte. So gesehen hat es sich wie eine stehen gebliebene Zeit angefühlt. Sehr nostalgisch“.

„Motherland. Far Beyond the Polar Circle“

Für die Fotoserie nutzte Georgs die sowjetische Mittelformatkamera Salut und die Objektive Mir. Das technische Set-up war in seinen Worten genauso unzuverlässig wie das sowjetische System selbst, was eine zusätzliche Bedeutung dem Projekt hinzufügte.

Post-sowjetische Fotografie: Storytelling und Inspiration

Die persönliche Verbindung zu den Orten ist ein wichtiges Thema in der dokumentarischen Fotografie. Gibt es aber darüber hinaus ein Trend oder eine Tendenz, die bei den Arbeiten der Fotograf*innen aus den post-sowjetischen Ländern gemeinsam ist? Die Meinung von Georgs ist eindeutig: „Ich denke nicht, und ehrlich, ich finde es nicht interessant, auf die Arbeiten aus dieser vergleichenden Perspektive zu schauen und zu überlegen, was ein Trend ist und was nicht“.

Viel wichtiger für mich sind der Content, die fesselnde Story und die Bedeutung. Etwas, was auch die nachfolgenden Generationen begeistern würde.

Falls ihr auf der Suche nach etwas Foto-Inspiration aus osTraum seid, könnt ihr den Georgs‘ Tipps folgen und euch mit den Arbeiten dieser Fotograf*innen vertraut machen: Rafał Milach, Dragana Jurišić, Alexander Gronsky, Alnis Stakle, Łukasz Rusznica, Maria Kapajeva und Katarzyna Wasowska (insbesondere ihre aktuelle Arbeit zusammen mit Marianna Wasowska „Waiting for the snow“).

„Motherland. Far Beyond the Polar Circle“

In Bezug auf Russland und die Polarregionen hat Georgs mit uns ebenso einige spannende Referenzen geteilt: „Für mein letztes Projekt in Russland habe ich mir „My Dear Yakutia“ von Alex Vasilyev ; „New Path – A Window on Nenets Life“ von Alegra Ally; „Tiksi“ von Evgenia Arbugaeva; „Weather Man“ von Evgenia Arbugaeva; „Clear of People“ von Michal Iwanowski angeschaut. Aber zur gleichen Zeit hat mich auch die Perspektive von Outsidern auf die post-sowjetischen Länder und insbesondere Russland und die Polarregion interessiert: Luc Delahaye – Winterreise; Jonas Bendiksen – RUSSIA. Birobidzhan, The Jewish Autonomous Region; Mark Mahoney – Polar Night; Liza Factor – Surface of Siberia; Oded Wagenstein – Forgotten Like Last Year’s Snow; Michael Schnabel – Stille Berge; Simon Roberts – Motherland; Mark Power –  The Sound of Two Songs. Abgesehen von der Fotografie hat es mich sehr berührt, die Coda Storys „Generation Gulag“ Serien, produziert von Katia Patin, und den Doku „… and Igarka. Hope and Butterfly“ der lettischen Regisseurin Dzintra Geka anzuschauen. Gerade jetzt lese ich „Der Archipelag Gulag“ von russischem Schriftsteller und Historiker Aleksandr Solzhenitsyn“.

Die zeitgenössische Fotografie in Lettland

Die zeitgenössische Fotografie in Lettland steht nicht still und wird von einigen spannenden Programmen und Institutionen unterstützt. In erster Rolle sei hier ISSP zu erwähnen – eine Plattform, die durch Vorträge, Vorlesungsreihen und Bildungsprogramme viele Möglichkeiten zum Austausch unter Fotograf*innen anbietet, und jährlich eine International Summer School of Photography organisiert.

Das Künstlerkollektiv Baltic Analog Lab in Riga ist der Treffpunkt für Filmemacher*innen und Fotograf*innen, die sich für analoge Film und Fotografie interessieren. Der Fokus liegt auf der Bildung und Kollaboration, was durch einen kreativen Raum mit regulären Workshops ermöglicht wird. Ein wichtiges Event ist dabei das experimentale Filmfestival Process, das in Riga jeden März stattfindet.

Außerdem gibt es noch Rucka Artist Residency – ein Freiraum, der von Künstler*innen für Künstler*innen erschaffen wurde. Die Stiftung Rucka Art Foundation wurde 2007 ins Leben gerufen, um die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf Umweltfragen und soziale Themen mithilfe von Dokus und dokumentarischer Fotoprojekte zu lenken. Aktuell befindet sich Rucka in Cēsis, einer Kleinstadt, die eine Stunde Autofahrt von Riga entfernt ist. Die Residenz ist offen für Studierende der visuellen Kommunikation, junge Architekt*innen, Regisseur*innen, Fotograf*innen und Anthropolog*innen.

Eine andere Residenz für Künstler*innen ist Roja Art Lab in Roja, nahe zu Kaltene. Hier haben die Kreativen die Möglichkeit, sich experimentellen Projekten zu widmen, welche Kooperation und Austausch erfordern. Für die Residenz werden Teilnehmende gesucht, die sich mit der lokalen Community auseinandersetzen und diverse Medien innovativ einsetzen möchten. Jeden Sommer findet in der Residenz das internationale Filmfestival „RojaL“ statt.

Ihr seht selbst: Die zahlreichen vielversprechenden Projekte und Initiative unterstützen unabhängige Fotograf*innen und Künstler*innen in Lettland, und es lohnt sich, sich sie genauer anzusehen und über sie weiterzuerzählen! Kennt ihr auch faszinierende Dokumentarfotograf*innen aus osTraum? Schreibt uns eure Tipps in die Kommentarspalte.


Alle Fotos © Georgs Avetisjans

Mehr Infos auf www.georgeavetisyan.com


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