Im Rahmen des Ukrainian Film Festivals konnten sich Berliner:innen mit dem neuen ukrainischen Film ‘Pamfir’ bekannt machen. Der Film wird in seiner Heimat schon jetzt als Kultfilm gefeiert und auf zahlreichen internationalen Filmfestivals vorgeführt. Die allegorische Tragikomödie des Regisseurs Dmytro Sucholytkyj-Sobčuk entführt in die eigentümliche Welt der Karpaten im ukrainischen Westen, an der Grenze zu Rumänien.
Die Wahl des Handlungsortes ist dabei nicht ungewöhnlich. Bereits zu Sowjetzeiten fungierte die Karpatenregion mit ihrer distinkten Folklore im südwestlichsten Winkel des Imperiums als Abgrenzungsort der ukrainischen Nation vom russischen Zentrum. Beispielhaft hierfür steht der ikonische Film Tini zabutych predkiv (1964, dt. Schatten der vergessenen Vorfahren) des berühmten Regisseurs Sergej Paradžanov.

Nach gut 60 Jahren folgt nun Pamfir als modernes Update des Karpatenmotivs. Der Film behandelt die Rückkehr des ukrainischen Gastarbeiters Leonid in dessen Heimatdorf. Vor Ort erwarten ihn seine Frau Olena und Sohn Nazar. Das Dorf befindet sich inmitten der Vorbereitungen auf den alljährlichen großen Karneval am 13. Januar, Malanka, bei dem die auffällig kostümierten Männer der Karpatendörfer Kämpfe zu ungestümer Huzulen-Musik austragen.

Mit dem Wissen, seinen Vater bald wieder verabschieden zu müssen, setzt Nazar die Dorfkirche mit den Arbeitsdokumenten Leonids in Brand. Um den Sachschaden zu beheben, beschließt Leonid, zu alten kriminellen Machenschaften zurückzukehren: dem Grenzschmuggel. Dabei hatte er diesem aus Rücksicht auf seine Frau Olena abgeschworen, die einst bei einem gemeinsamen Schmuggel eine Fehlgeburt erlitt. Die Rückkehr in die Kriminalität bedroht erneut das flüchtige Familienglück.
Leonid gerät in Konflikt mit dem örtlichen Mafiaboss, Herrn Orest, der das offizielle Amt des Waldministers innehat und den Grenzschmuggel kontrolliert. Am Tage des Karnevals zwingt Orest Leonid, einen Schmuggel durchzuführen, für den sein Sohn Nazar benutzt werden soll. Während Nazar einen engen Geheimtunnel nach Rumänien durchquert, wird Leonid vom ukrainischen Grenzschutz erschossen. Olena, die vom Vorfall erfährt und den Sachverhalt schnell begreift, erleidet inmitten des Karnevals einen Nervenzusammenbruch. Weder Mann noch Sohn verstecken sich hinter den Karnevalsmasken. Nazar wird indessen vom rumänischen Grenzschutz verhaftet.

Trotz der tragischen Auflösung ist ‘Pamfir’ im Wesentlichen eine Zelebrierung ukrainischer Männlichkeit und Virilität voller heiterer Momente. Der Film reflektiert zudem die Position der Ukraine innerhalb Europas und ihre Emanzipation vom sowjetischen Erbe.
Die Glorifizierung ukrainischer Männlichkeit ist auf den aktuellen Kriegskontext zurückzuführen. Leonid repräsentiert dabei das Ideal des ukrainischen Mannes und trägt hierzu passend einen an die Saporoger Kosaken und Taras Schewtschenko angelehnten Bartschnitt. Er verschreibt sich dem Schutz seiner Familie und strotzt vor sexueller Kraft. Schon nach seiner Rückkehr ins Dorf hat er leidenschaftlichen Sex mit Olena. Für den Schmuggel muss er seinen Körper mit Steroiden dopen und später seiner hartnäckigen Erektion entgegenwirken. Außerdem legt er sich in einer Prügelei zunächst erfolgreich mit einer Schar an Handlangern des Mafiabosses Orest an. Doch Orests Macht triumphiert: Leonids Rachen wird schließlich mit der phallusähnlichen Armlehne des Mafiaboss-Sessels gestopft.
Neben der Heldenfigur Leonid spielt im Werk Sucholytkyj-Sobčuks auch die generationsübergreifende Vermittlung von Männlichkeit eine entscheidende Rolle. Die enge Vater-Sohn-Beziehung zwischen Leonid und Nazar ist das Hauptmotiv des Filmes. Leonid lehrt seinen Sohn, mutig und vernarbt anstatt sicher und schwach zu sein. Im Sterben schärft er ihm ein, sich niemals zu ergeben und niemandes Lakai zu sein. Eine klare kriegspropagandistische Botschaft.

Diskussionswürdig erscheint Pamfirs allegorische Darstellung der zeitgenössischen Ukraine im Gefüge Europas. Der Schmuggel, der im Film als ‘nationale Tradition’ beschrieben wird, verweist auf die Außenseiterposition des Landes, dessen Bewohner:innen von den prekären Kontakten mit den EU-Nachbarländern zehren. Vertreter des sowjetischen Erbes, personifiziert durch den Dorfpfarrer und den Mafiaboss Orest, sichern dabei den status quo dieser Ordnung.
Auffällig ist, dass Sucholytkyj-Sobčuk die Dorfkirche im Stil eines sowjetischen Kulturpalastes erscheinen lässt. Slogans auf Plakaten im sowjetischen Stil erziehen die Dorfbewohner:innen zu Gehorsam, etwa ‘Idi i bilše ne griši’ (Gehe und sündige nicht mehr) auf rotem Hintergrund. Religion symbolisiert hier die sowjetische Ideologie. Leonids Vater wandte sich von der Kirche ab, als diese seine Ikonenmalerei verstieß. So wuchs bereits unser Held mit einer gewissen ideologischen Freiheit auf. Es bedurfte jedoch noch einer Generation, um den Zustand des post-sowjetischen status quo zu erkennen. In einem radikalen Akt jugendlicher Naivität übergibt Nazar den Ort sowjetischer Indoktrination den Flammen.
Mit der Überwindung des ideologischen Fundamentes sind jedoch nicht die sowjetischen Machtstrukturen bezwungen, wie sich in der blutigen Entwicklung des Filmes zeigt. Hieraus lassen sich Parallelen zu der realen Gewalteskalation seit der ukrainischen Maidan-Revolution 2014 ziehen. Herr Orest verkörpert als Mafiaboss und Waldminister auf interessante Weise zwei Dimensionen der sowjetischen Kader. Auf der einen Seite die skrupellosen Gewaltgruppierungen, auf der anderen Seite die heuchlerische Volkstümlichkeit des sozialistischen Realismus. Gekonnt baute Sucholytkyj-Sobčuk einen fiktiven Dokumentationsfilm aus dem karpathischen Regionalfernsehen ein, der die Arbeit des Waldministers Orest mit idyllischer Natur und Regionalpatriotismus verklärt. Die Parallelen zu geschönten Dokumentationsfilmen, wie sie für das sowjetische Fernsehen der Breschnew-Ära charakteristisch waren, sind unverkennbar.
Nach der Betrachtung Pamfirs stellt sich unweigerlich die Frage, welche Vision der Film von einer unabhängigen Ukraine vermittelt. Paradoxerweise verbleibt Pamfir hier weiterhin in Motiven, die der gesamtsowjetischen gesellschaftskritischen Tradition entstammen: die Erneuerung der traditionellen Familie, die Verehrung des Landlebens sowie die Überwindung des entmännlichten sozialistischen Mannes. Diese Motive wurden mit zeitgenössischen nationalen Referenzen versehen, die den aktuellen Reiz des Filmes erklären, ihn aber auch beliebig erscheinen lassen.
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Die Fotografien aus dem Film ‘Pamfir’ wurden mit der freundlichen Genehmigung des Ukrainian Film Festivals Berlin verwendet.