Text & Fotos: Joshua Bean. Das Original erschien auf Englisch auf osTraums Partnerseite Lossi36.
1940 wurde Estland nach diversen Ultimaten und gewalttätigen Eingriffen von sowjetischen Streitkräften annektiert. Obwohl Estland 1941 wiederum von den Nazis eingenommen wurde, eroberte die Rote Armee das Land drei Jahre später zurück und gliederte es vollständig in die Sowjetunion ein. In den folgenden Jahrzehnten fand eine massive Sowjetisierung des Landes statt. Die Sowjets verstärkten dabei ihren ideologischen Würgegriff über die neue Estnische Sozialistische Sowjetrepublik immer mehr.
Die sowjetische Besetzung hätte schwerwiegende Folgen für den urbanen Raum in Estland. Die Abwanderung nach Westen und die Industrialisierung wurden von einer dramatischen Expansion der Wohngebiete begleitet, während öffentliche Gebäude nun errichtet wurden, um den Kommunismus als neue ideologische Orientierung zu repräsentieren zu repräsentieren. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 wurden Anstrengungen unternommen, den baltischen Staat zu dekommunisieren. Aber wie in weiten Teilen des postsowjetischen Raums bleibt das Erbe der Sowjetzeit durch seinen Einfluss auf die Architektur des Landes weiterhin bestehen.
Der großflächige russländische Einmarsch in die Ukraine hat erneut Fragen zur Kolonialisierung Estlands durch die UdSSR in den Vordergrund der öffentlichen Debatte gerückt. Sollte zum Beispiel der Krieg in der Ukraine eine Änderung der Erinnerung an die Sowjetzeit erzwingen? Wie verinnerlicht Estlands postsowjetische Generation die koloniale Vergangenheit ihres Landes? Bei dem Versuch, Antworten zu finden, reiste ich durch das Land, um einige der bedeutendsten architektonischen Bauwerke Estlands aus der Sowjetzeit zu fotografieren, und interviewte Triin Ojari, Architekturhistoriker und Direktor des Estnischen Architekturmuseums.
Diversität von Interpretationen der sowjetischen Symbolik
Tallinns gotisches Stadtzentrum und die gepflasterten Straßen ähneln sicherlich nicht den stereotypen Bildern einer postsowjetischen Hauptstadt, aber sowjetische Relikte sind dort für diejenigen zu finden, die sich auf die Suche begeben möchten. Eine kurze Busfahrt vom Stadtzentrum entfernt befindet sich das Maarjamäe-Denkmal, ein Meisterwerk modernistischer Skulptur aus den 1960er Jahren. Eine Reihe geneigter Pfade schnitzen Maarjamäe in den Hang, während ein 35 Meter hoher Obelisk mit Blick auf den Finnischen Meerbusen, umgeben von niedrigen Betonpyramiden, als Herzstück des Geländes dient.


„Der Standort Maarjamäe ist besonders interessant“, erklärte Ojari. „Es grenzt an das Museum der estnischen Geschichte und einen Garten mit zerbröckelnden Statuen von Lenin und Stalin. Es ist auch eine Begräbnisstätte deutscher Soldaten, die während der Besatzung 1943 getötet wurden.”
Am interessantesten ist jedoch, dass das Maarjamäe-Denkmal seinen Standort mit dem 2018 eröffneten Denkmal für die Opfer des Kommunismus teilt. Ich fragte Ojari, ob es eine politisch motivierte Entscheidung der Behörden sei, das neue Denkmal in Maarjamäe zu errichten. “Offensichtlich gab es in der Stadt selbst kein ausreichend großes Gebiet… aber es war eine etwas überraschende Entscheidung.”
In vielerlei Hinsicht dient der Ort Maarjamäe als Mikrokosmos des turbulenten 20. Jahrhunderts in Estland. Der Zustand des Denkmals ist vielleicht ein Hinweis auf die breitere öffentliche Positionierung gegenüber der Sowjetzeit – viele der Wege sind überwuchert, während Vandalismus und schlechte Instandhaltung dazu geführt haben, dass ein Großteil des Denkmals jetzt hinter Barrikaden steht.
Linnahall im Zentrum von Tallinn ist ein weiteres typisches Beispiel für die sowjetische Architektur. Man könnte meinen, das Gebäude sei auf den ersten Blick eine Art Bunker. Es hat nahezu keine Fenster, ist vollständig aus Beton gebaut und nur 3-4 Stockwerke hoch, obwohl es einen beträchtlichen Anteil der Strandpromenade im Zentrum von Tallinn einnimmt. Linnahall wurde erbaut, um kulturelle Veranstaltungen während der Segelregatta bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau durchzuführen, und beherbergt ein Theater mit 4.000 Sitzplätzen und unzählige Verwaltungsräume.
Nahezu frei von sowjetischer Symbolik und Parolen


Linnahall war in seinem Design und seinen architektonischen Prinzipien höchst innovativ. Tatsächlich sollte Linnahall laut Ojari die Grenze zwischen Küste und Stadt überschreiten: „Diese Architektur ist ziemlich interessant. Es versucht, das Zentrum mit der Uferpromenade zu verbinden. Es ist ein riesiger öffentlicher Raum… wegen der Terrassen und Treppen auf dem Dach ist diese Verbindung zu spüren.“ Die internationale Gemeinschaft war sich damals darüber offensichtlich einig: 1983 gewann der estnische Architekt der Anlage Raine Karp den Preis der International Union of Architects.
Trotz seiner spannenden Geschichte ist Linnahall bei einem Großteil der estnischen Öffentlichkeit in Ungnade gefallen. „In den vergangenen Monaten des Krieges [Russlands gegen die Ukraine (Anm.d.Redaktion)] haben sich viele Immobilienentwickler dafür ausgesprochen, es abzureißen, weil es die Aussicht vom Zentrum aus auf das Meer stört“, sagte Ojari. Linnahall befand sich seit der Schließung seines Hauptkonzertsaals im Jahr 2010 in einem Schwebezustand, obwohl es weiterhin ein gut genutzter und zugänglicher Ort von Tallinns Jugendlichen und Graffiti-Künstler*innen ist.
Es ist verlockend, in der Politik oder Ästhetik nach einer Erklärung dafür zu suchen, warum sowjetische Bauten wie Maarjamäe und Linnahall in einem demokratischen Staat existieren, aber die Realität ist komplizierter. Einerseits werden sie von den Zeitzeugen als Erinnerung an die brutale Unterdrückung durch die Sowjets interpretiert. Andererseits wurden diese Strukturen hauptsächlich von estnischen Architekten gebaut. Ein Großteil der nach 1991 geborenen estnischen Generation betrachtet diese Bauten daher als wichtige Ausdrucksformen des nationalen Erbes, die nicht mit dem kolonialen Zeitgeist der Vergangenheit übereinstimmen.
„Während der Sowjetzeit gab es in Estland nur sehr wenige russische Architekten“, erzählte mir Ojari. „Trotz der existierenden Normen im Wohnungswesen hat Moskau aus ästhetischer Sicht nichts diktiert.“ Tatsächlich hat Estlands finno-ugrisches Erbe einiger dieser Bauten eine starke modernistische Tradition verliehen – eine Tradition, die die Sowjetzeit überdauert hat. Bemerkenswerterweise lassen sich sowohl in Maarjamäe als auch in Linnahall wenig direkte Bezugnahmen auf standhafte sowjetische Symbolik und Parolen finden. Ojari sieht dies als Segen und Bürde zugleich: „Obwohl sie größtenteils frei von sowjetischen Symbolen sind, gestaltet es sich vielleicht einfacher, sie sich anzueignen.“
Die Regeneration des öffentlichen Raumes
Bauten aus der Sowjetzeit, die in Privatbesitz geraten sind, haben sich seit 1991 jedoch tendenziell deutlich günstiger entwickelt. Ojari schreibt diesem Phänomen vor allem schöne Erinnerungen an die olympische Zeit zu: „In der sowjetischen Epoche [der Architektur] ging es nur darum, anzugeben.“ sagte Ojari. „Während der Olympischen Spiele kam dadurch viel Neues in den Alltag der Menschen.“

Tatsächlich hat das Zusammentreffen der Olympischen Spiele in Moskau mit der Modernisierung Estlands die Zukunft vieler für die Spiele errichteter Gebäude gesichert. Nehmen Sie zum Beispiel die ehemaligen Sportlerresidenzen in Tallinn. In bemerkenswertem Kontrast zu Maarjamäe und Linnahall wurde diesen spektakulären, brutalistischen Apartments mit Hanglage als Unterkunft für das Olympic Hotel neues Leben eingehaucht und sie bieten den Gästen sonnendurchflutete Balkone und einen unverbauten Blick auf den Finnischen Meerbusen.


Ein weiteres Beispiel ist der Mikrobezirk Annelinn in Tartu, der zweitgrößten Stadt Estlands. Auf den ersten Blick ist Annelinn nichts Besonderes, doch „Annelinn ist einer dieser typischen Mikrobezirke aus der Sowjetzeit“, so Ojari. Zwar sind solche Mikrodistrikte meist homogen gestaltet und überall im postsowjetischen Raum zu finden. In Estland ist die Situation nicht viel anders: „Eine Fabrik in Tallinn produzierte fast alle Paneele. Es ist ein estnisches Projekt unter der Leitung des lokalen Architekten Mart Port, der den Großteil der Mikrobezirke entwarf.“
Viele dieser Mikrodistrikte im postsowjetischen Raum wurden von ihren Regierungen vernachlässigt, da die Instandhaltung eine gegenüber dem Abriss oder Neubauten zu teuer ist. Bei meinem Besuch in Annelinn überkam mich jedoch ein spürbarer Bürgerstolz. Tatsächlich scheinen sowohl EU-Fördermittel als auch Privateigentum das Potenzial des Mikrobezirkskonzepts voll ausgeschöpft zu haben: verjüngte Grünflächen, Wasserspiele und öffentliche Gebäude wie Bibliotheken dienen der lokalen Gemeinschaft, während häufige Verkehrsverbindungen an der Peripherie eine zuverlässige Lebensader zum schicken Zentrum von Tartu darstellen.
Erhaltung und Niedergang in Estlands Grenzgebieten
Dennoch wird abseits der großen Ballungszentren das ungewisse Schicksal sowjetischer Bauten in Estland einmal mehr deutlich. In der Küstenstadt Sillamäe, die zu Sowjetzeiten wegen ihrer Uranraffinationsanlagen geschlossen wurde, befindet sich die Stadt im Zwiespalt zwischen Niedergang und Bewahrung. Sie ist eine Art architektonische Metapher für den Rest des Landes. In der Nähe der Stadt Narva an der Grenze zu Russland lebt ein großer Teil des russischsprachigen Estlands hier und in den umliegenden Regionen ausmacht – etwa 24 % der Gesamtbevölkerung.
„Narva und Sillamäe sind fast völlig unterschiedliche Regionen, wie Sie sich vorstellen können. Sie sind im Grunde ausschließlich russischsprachig. Alle Einheimischen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg deportiert.“


Sillamäe ist unter sowjetischen Architekturliebhabern für seine stalinistische Strandpromenade und den benachbarten Kulturpalast bekannt. Es ist offensichtlich ein Ort, auf den die Einheimischen stolz sind, gemessen an der Beschreibung eines älteren Mannes mit strahlenden Augen, der mir die Richtung zeigte, und der Tatsache, dass seine Gärten während meines Besuchs renoviert wurden. Aber abseits der Hauptstraße sind Anzeichen des Niedergangs zu erkennen. Viele Fassaden bröckeln, und wenn man sich den hoch aufragenden Schornsteinen am Rande der Stadt nähert, sind viele verlassene Industriebauten zu sehen.

„Narva und Sillamäe sind fast völlig unterschiedliche Regionen, wie Sie sich vorstellen können. Sie sind im Grunde nur russischsprachig. Alle Einheimischen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg deportiert.“ Dieser Status an der relativen Peripherie Estlands hat die Region mit sozioökonomischen Problemen und wenig Zeit für eine öffentliche Debatte über die Erhaltung der Architektur belassen. Tatsächlich hat Narva mit 12,4 % die höchste Arbeitslosenquote in Estland, wobei die Jugend besonders betroffen ist „Die Menschen haben weder das Geld noch das Interesse am Wiederaufbau städtischer Gebiete… es ist eher ein wirtschaftliches als ein ideologisches Problem.“
Geschichte in der postsowjetischen Ära zusammengefasst
Sowjetische Bauten im heutigen Estland existieren im Dazwischen. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Fragen über das Erbe dieser Zeit neu entfacht, und die gemischten Gefühle über die sowjetische Architektur – obwohl das sicherlich nicht der einzige Streitpunkt ist – weisen auf eine Zustand der Gesellschaft hin, in der Fragen des historischen Gedächtnisses noch ungelöst sind und über Generationen hinweg Spaltung bringen können. Bei solch greifbaren und dauerhaften Auswirkungen auf das tägliche Leben ist es jedoch keine Überraschung, dass die Architektur weiterhin an vorderster Stelle der Debatte steht, wenn Estland sich mit seiner sowjetisch-kolonialen Vergangenheit auseinandersetzt.
„Diese Gebäude sind anders – heute würde niemand so etwas wie Linnahall bauen. Sie sind in gewisser Weise verrückt, sogar absurd.”
Trotz einer Atmosphäre der Ungewissheit sieht Ojari einer positiven Zukunft entgegen. „Die jüngere Generation hat keine solchen Wutgefühle gegenüber der Sowjetzeit… sie beurteilen diese Gebäude nach ihrer architektonischen Qualität, nicht nach der Ideologie, unter der sie gebaut wurden.“ Ojari hat Recht: Frei von der gelebten Erfahrung der damaligen Zeit interpretiert die postsowjetische Generation Estlands die sowjetische Vergangenheit des Landes weitgehend durch eine apolitische Linse.
Viele postsowjetische Esten erkennen auch zunehmend an, dass die von der sowjetischen Kolonialisierung hervorgebrachte Architektur ein einzigartiges historisches Phänomen war, und genau diese Kombination aus Aufgeschlossenheit und Wertschätzung beginnt, das Blatt zugunsten der Erhaltung zu wenden. „Diese Gebäude sind anders – heute würde niemand so etwas wie Linnahall bauen. Sie sind in gewisser Weise verrückt, sogar absurd.”
Diese Verschiebung der öffentlichen Meinung ist im hohen Maße der Arbeit von Historiker*innen wie Ojari und dem Estnischen Architekturmuseum zu verdanken. Unterdessen demonstrieren das Olympic Hotel in Tallinn und der Mikrobezirk Annelinn in Tartu, dass sowjetische Gebäude unabhängig von historischen Konnotationen vollständig in lokale Gemeinschaften integriert werden können. Während der Krieg Russlands gegen die Ukraine die Hinterlassenschaften der Sowjetherrschaft im gesamten postsowjetischen Raum in Frage stellt, sieht die Zukunft der sowjetischen Gebäude in Estland – einem Land mit einer besonders angespannten Beziehung zum sowjetischen Kolonialismus – unerwartet vielversprechend aus.
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