Atomic Heart: Die andere Sowjetunion und der Krieg gegen die Ukraine

Am 21. Februar 2023 kam das Videospiel Atomic Heart in die Läden, erhältlich für PC, Xbox und Playstation. Ein Spiel, das überall – in der EU, in der Ukraine und in Russland – verkauft wird, weist viele eigenartige Einzelheiten auf, die zu der Annahme verleiten, das Spiel unterstützt die koloniale Politik und den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine. Ob das alles Zufälle sind oder nicht, möchte osTraum versuchen zu verstehen. Bevor wir aber zu den Eigenheiten kommen, erzählen wir ganz knapp, worum es in dem Spiel überhaupt geht.

Das Sujet in dem Action-Adventure-Action-Rollenspiel handelt von der Sowjetunion anno 1955 und das sozialistische SciFi-Land realisierte eine massentaugliche Roboterproduktion. Die Android-Maschinen dienen der Bevölkerung des Landes auf diversen Ebenen – in Fabriken, in der Landwirtschaft sowie im Sex-Gewerbe. Aus der Ego-Perspektive bietet das Spiel eine Vielzahl von modifizierbaren Kurz- und Langwaffen, natürlich auch das Kalaschnikow-Gewehr, kurz AK. In einer Fabrik in der Kasachischen Sowjetrepublik, in der die Roboter hergestellt werden, gab es aus unerklärlichen Gründen einen Aufstand der Roboter. Ein Geheimdienst-Major wird in das Gebiet geschickt um den Fall aufzuklären. Das Spiel geht los.

Das Spiel mit symbolischen Daten

Am 18. März 2018 begann die vierte Amtszeit von Vladimir Putin. Zwei Monate danach, am Tag der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands und ein Tag vor dem Tag des Sieges, am 8. Mai 2018 also, kündigte der Computerspielegersteller Mundfish an, das Spiel Atomic Heart mit dem bereits besprochenen Inhalt auf den Markt zu bringen. Bei dem Hersteller handelt es sich um ein 2017 auf Zypern gegründetes Unternehmen. Veröffentlicht wurde es letztendlich am 21. Februar 2023 – ein Tag nach Putins Rede zur Lage der Nation, in der er unter anderem das Ende der Teilnahme Russlands am Atomwaffen-Kontrollvertrag ankündigte; zwei Tage vor dem russländischen Tag des Verteidigers des Vaterlandes; drei Tage vor dem Jahrestag der großflächigen Ausweitung des russländischen Krieges gegen die Ukraine; genau ein Jahr nach Putins Rede über die Anerkennung der sogenannten „Volksrepubliken“ im Osten der Ukraine. Die zentralen Punkte der Rede waren auch der Zerfall der Sowjetunion als eine nationale Tragödie sowie die Unannehmbarkeit der Existenz einer unabhängigen Ukraine.

Das (inter)nationale Team

Das Unternehmen versteht sich als international und nicht als russisch. Politische oder religiöse Meinungen sind dem Unternehmen wohl fremd. Dabei heißt der CEO Robert Bagratuni, zuvor unter anderem Creative Director beim russländischen E-Mail- und Nachrichtenportal Mail.ru. Bei Facebook benutzte er früher auch den Namen Max Zacepin, wie die Google-Suche und sein Facebook-Link zeigen. Weitere Schlüsselrollen in dem Unternehmen spielen Artem Galeev, Evgenia Sedova, Oleg Gorodishenin, Maxim Kolesnikov, Alexander Dagan und weitere. Laut dem Bericht von GameStar sind nicht nur die meisten Führungspositionen von Menschen aus Russland besetzt, sondern arbeitet die Firma auch in Moskau. Zu ihren wichtigsten Investoren zählen ebenfalls russisch geführte Unternehmen Gaijin Capital mit Sitz in Ungarn und Gem Capital aus Zypern. GameStar berichtet ebenfalls darüber, dass es gegenüber Gaijin Vorwürfe gegeben hat, die Firma unterstützt die separatistischen Kräfte im Osten der Ukraine. Eine der führenden Positionen bei Gem belegt dabei Anatolij Palyj, der früher bei Gazprom gearbeitet hat.

Ukrainische Frauen als Dienerinnen

Das Verhältnis der „Drehbuchautor*innen“ des Spiels zu Frauen wirft viele Fragen auf. Auf vielen Presseillustrationen und im Sujet selbst werden immer wieder feminine Roboterfiguren gezeigt, die dem Sowjetmensch bzw. dem Sowjetmann dienen. Auffällig ist dabei, dass die Figuren einen nahezu nackten weiblichen Körper darstellen könnten, der dabei von einer Frisur dekoriert wird, die wir schon oft gesehen haben… Ja, wir kennen die Frisur vor allem von den Auftritten der ukrainischen Politikerin Julia Tymoschenko – mehrfache Abgeordnete der ukrainischen Rada. Zweimal Premierministerin der Ukraine (2005, 2007-2010) und die erste Frau, die Premierministerin der Ukraine wurde, zudem Vorsitzende der politischen Partei Batkivshchyna und des politischen Bündnisses des Tymoschenko-Blocks (2001).

Nostalgie bedeutet Kraft

Im Verlauf des Spiels stoßen die Spieler*innen immer wieder auf Nostalgie-Elemente, die anfangs harmlos erscheinen, weil das Spiel ja von einer alternativen Entwicklung der 1950-er erzählt. Nach und nach setzen sich viele dieser nostalgischen Elemente jedoch zu einem Muster zusammen. Zwei der besten Beispiele sind der berühmte Trickfilm Nu Pogodi! (Hase und Wolf (1969-1986, 1993, 1995, 2005), in dem Folge für Folge der Wolf den Hasen jagt, doch alles ohne Erfolg. Der Hase entkommt ihm immer wieder und lässt das böse Raubtier als einen alkoholabhängigen Nichtsnutz hinter sich. Irgendwie erinnert das alles an die US-amerikanische Trickfilmreihe Tom & Jerry (1940 – heute), doch das ist eine andere Geschichte. Nu Pogodi! kann sich jedenfalls der Protagonist – ein sowjetischer Geheimdienstmajor – in den Entspannungsräumen anschauen, in Räumen also, in denen er Kraft für seine weiteren Schritte schöpft. So wird ein Kinderfilm zu einem Film für den Erwachsenen, der die ungehorsamen Roboter zur Ruhe bringen soll. Ein weiterer Aspekt ist das Konservenfleisch, das in der UdSSR tatsächlich existiert hat. Schaut man sich die Verpackung an, so wird es im aktuellen Kontext fragwürdig, ob das ebenfalls ein Zufall ist, dass die Farben eine auf Kopf gestellte ukrainische Flagge darstellen und die Aufschrift Колбасный фарш свиной (Wursthackfleisch aus Schwein) lautet. Die Metaphern des Krieges als einen Fleischwolf und die russländische Beleidigung von Ukrainer*innen als Schweinen, weil Schweinespeck zu ukrainischen Nationalgerichten gehört, liegt hier zu nah an der erfundenen Realität des Spiels. Schweine und andere Tiere können im Spiel übrigens auch getötet werden.

Die friedliche Stadt Donezk

Als ob es nicht genug von sowjetischer Nostalgie gäbe, die in Verbindung zum Krieg gebracht werden kann, tauchen in dem Spiel Schwarze Bretter auf, auf denen die gute alte und friedliche Stadt Donezk dargestellt wird. Im Sinne des Spiels ist sie wohl gut und friedlich, weil sie vor allem sowjetisch ist und erst dann ukrainisch. Seit 2014 sind in der Stadt pro-russische Separatistentruppen aktiv, die von der Regierung Russlands unterstützt werden. Im Zuge der Invasion in die Ukraine hat Russland im September 2022 die Stadt und das Gebiet Donezk für russländisches Territorium erklärt. Die Annexion wurde international nicht anerkannt.

Die UdSSR als das Russische Imperium

Als Fassaden dienen in dem Verlauf des Spiels auch festliche und militärische Paraden, die jede*r von uns sicherlich auch dem Fernsehen kennt, von alten Aufnahmen aus der UdSSR, der DDR oder aktuellen Aufnahmen aus China oder Nord Korea. Auffällig ist bei den SciFi-Paraden im Spiel, das neben der allgegenwärtigen roten Farbe, auch die weiße und blaue Farbe das Gesamtbild der Feierlichkeiten prägt. Dass es in der realen Welt die Nationalfarben Russlands sind, mag ein weiterer Zufall sein. Es sind ja auch Farben der Tschechischen Republik oder der Slowakei oder Serbiens… Das hat sicherlich nichts mit Russland zu tun. Es ist eine erfundene Welt. Das dürfen wir nicht vergessen.

Die Architektur des Imperiums

Dass in dem Spiel über die UdSSR die typische Zuckerbäckerarchitektur Stalins vorkommt, ist nicht weiter verwunderlich. Bis heute prägt die aus den USA entlehnte und als sowjetische Erfindung konnotierte Architektur die urbanen Landschaften postsozialistischer Hauptstädte – Warschau, Riga, Vilnius, Sofia, und natürlich Moskau. Was hier aber diskutiert werden kann, warum bei der Aufstellung der Flaggen die Ukrainische SSR nach der Belarusischen SSR kommt. Ist es eine Referenz zur Politik Russlands der vergangenen 20 Jahre und ein Wunschbild der nächsten 10 Jahre? Nach Belarus kommt jetzt die Ukraine. Zudem ist die Statue der Mutter Heimat im gleichen Architekturensemble den beiden bekanntesten realen Statuen der Mutter Heimat zum Verwechseln ähnlich. In der realen Welt steht die Eine in Wolgograd (Russland) und die Andere in Kyjiw. Im Spiel wird eine hybride Mutter Heimat dargestellt – ihre Arme sind auf fast gleicher Weise nach oben gerichtet und sie steht nahezu frontal zum Betrachtenden, ganz wie die Mutter Heimat im Kyjiw. Anderseits ist sie von einem hauchdünnem Stoff umhüllt und der Arm mit dem Schwert ragt doch etwas höher in die Luft, wie bei der Statue in Wolgograd. Stellt also die digitale Statue tatsächlich eine hybride Mutter der Ukrainer*innen und Russ*innen dar? Jede*r mag es für sich selbst entscheiden. Die Hersteller des Spiels sehen in ihrem Werk jedoch keine Bezüge zum aktuellen Krieg.


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Titelbild: Collage aus Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported-Grafiken und nicht urheberrechtlich geschützten geometrischen Figuren von Wikimedia: Grafik 1, Grafik 2, Grafik 3
Alle Bilder: Eigene Screenshots von Wikipedia, Facebook, LinkedIn
Bildschirmaufnahmen und Erfahrungen aus dem Spiel: Großer Dank an Nikita Mikhaylov

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