„Sowjetistan“ von Erika Fatland

„Sowjetistan“ – mit dieser Wortneuschöpfung betitelte Erika Fatland das 2014 erschienene Buch über ihre Reisen in die fünf zentralasiatischen Staaten: Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgistan und Usbekistan. „Sowjetistan“ wurde bereits in zahlreiche Sprachen übersetzt und mit dem norwegischen Literaturpreis Bokhandelens sakprosapris ausgezeichnet.

Fatland begibt sich auf die Suche nach den Spuren der Sowjetunion in dieser Weltgegend, beschäftigt sich aber auch mit den Änderungen und Entwicklungen, die sich seit deren Zerfall und der daran anschließenden Unabhängigkeit der zentralasiatischen Länder ergeben haben.

„Es ist insgesamt unmöglich, die fünf neuen Länder in Zentralasien zu verstehen, ohne zu berücksichtigen, wie ihre Zeit als Sowjetrepubliken sie geprägt haben.“

Erika Fatland „Sowjetistan“

Die heutigen Staatsgebiete aller fünf Länder waren zum Teil bereits im 19. Jahrhundert vom zaristischen Russland erobert und kolonisiert worden, doch standen hierbei neben ökonomischen vor allem gebietspolitische Begehrlichkeiten im Vordergrund. Im Wettstreit mit Großbritannien und dem britischen Kolonialreich auf dem indischen Subkontinent ging es um die Vormachtstellung in der Region, die als sogenanntes ‚Great Game‘ in die Geschichte eingegangen ist.

Die Sowjetunion verfolgte jedoch weitaus radikalere Ziele – es ging um nichts weniger als die Verwirklichung einer Utopie.

„Innerhalb weniger Jahre wurden die Völker Zentralasiens gezwungen, den Schritt von einer traditionellen, auf Sippen basierenden Gesellschaft zu einem knallharten Sozialismus zu vollziehen. Alles, vom Alphabet bis zur Stellung der Frau in der Gesellschaft, wurde verändert, wenn nötig mit Gewalt.“

Erika Fatland „Sowjetistan“

Keiner der zahlreichen zentralasiatischen Eroberer hatte dermaßen tief und gründlich in die Gesellschaftsstrukturen und Traditionen der dort lebenden Menschen eingegriffen, wie die sowjetischen Machthaber, die den Flickenteppich, der sich aus unzähligen Bevölkerungsgruppen, Sprachen und Traditionen zusammengesetzt hatte, gewaltsam in künstlich kreierte Grenzen zwängte und Nationen schuf, die historisch nicht verankert waren.

Die Autorin schafft es, den Leser*innen anschaulich ein lebendiges Bild der reichhaltigen Historie, Kultur sowie der vergangenen und aktuellen politischen Verhältnisse zu zeichnen. Was Erika Fatlands Buch so besonders macht, ist die Verschmelzung der Hintergrundinformationen und der Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen, die sich der Autorin nicht selten mit persönlichen Geschichten und kritischen Einschätzungen öffnen. Umso wertvoller ist dieser Bericht vor dem Hintergrund der problematischen Situation der Pressefreiheit in den zentralasiatischen Ländern im weltweiten Vergleich. Kirgistan führt die Liste mit Platz 77 (von 180) an, es folgen Kasachstan auf Platz 122, Usbekistan auf Platz 133, Tadschikistan auf Platz 152 und Turkmenistan unrühmlich auf Platz 177.

Solarofen in Parkent, Usbekistan, erbaut 1981. Foto: Moritz Kretschmer

Fatland ist ein unglaublich vielseitiges Panorama gelungen, in dem nicht – wie so häufig, wenn die Namen Samarkand, Buchara und Seidenstraße fallen, – stereotype und orientalisierende Klischees bemüht werden, sondern vielmehr die Menschen im Mittelpunkt stehen, die sie ohne Ironie und unvoreingenommen beschreibt und die ihr stets mit großer Gastfreundschaft begegnen. Hervorzuheben ist auch ihr Bestreben, sich nicht allein auf ausgetretenen Pfaden zu bewegen, sondern ungewöhnliche Orte aufzusuchen (dazu zählt auch Turkmenistan, das schwer zugänglich ist), den Kontakt zu Minderheiten, wie den tadschikischen Jaghnoben oder Ismailiten, herzustellen und den Leser*innen dadurch vielfältige Einblicke zu ermöglichen.

Was zwischen den Stimmen der Einwohner*innen nahezu immer durchscheint, ist die Liebe und der Stolz auf das eigene Land. Dieser Stolz hat aber nichts mit den vorgegebenen gleichförmigen ‚Lobhudeleien‘ auf die jeweiligen ‚Landesväter‘ zu tun, sondern bezieht sich auf das Land selbst und seine Geschichte. Allgegenwärtig ist auch die Sehnsucht und nostalgische Verklärung der Sowjetzeit, in der „alles besser war“ – zumindest Brot, Speiseöl, Zucker und Gas stets vorhanden waren, ebenso wie relativ sichere Arbeitsverhältnisse.

Gebäudekomplex in Taschkent, Usbekistan. Foto: Antonia Schlotter

Dieses Argument wird in postsowjetischen Staaten häufig herangezogen, obwohl es angesichts der haarsträubenden Umweltkatastrophen, die in der sowjetischen Zeit verursacht wurden und unter deren Nachwirkungen die Bewohner*innen bis heute zu leiden haben, unhaltbar erscheint. Seien es die 456 Atomexplosionsversuche im kasachischen Semipalatinsk, die fast vierzig Jahre lang gezündet wurden und die Menschen krank und das Gebiet noch heute radioaktiv verstrahlt hinterlassen haben. Sei es der intensive, pestizidgetränkte Baumwollanbau, der den Aralsee – einst der viertgrößte Binnensee der Welt – auf einen Bruchteil seiner vorherigen Ausmaße schrumpfen ließ. Seien es die sowjetischen Versuche mit hochansteckenden Pocken und Milzbrand, die auf ehemaligen Inseln im Aralsee durchgeführt wurden, die heute trocken liegen, und deren Überreste bis heute im trockenen Sediment überdauern. Die gesundheitlichen, landwirtschaftlichen, geologischen und klimatischen Folgen sind enorm und insbesondere der Umgang mit und der Zugang zur Ressource Wasser wird in dieser Region noch für Sprengstoff sorgen.

Auch geopolitisch erscheint die Beschäftigung mit der Region aktueller denn je. Unruhige Nachbarn wie Iran und Afghanistan auf der einen Seite, einflussnehmende Großmächte wie China und Russland auf der anderen. Bei der Abstimmung der UN-Resolution vom 2. März 2022, die den russischen Angriff auf die Ukraine missbilligte, enthielten sich Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan; Usbekistan und Turkmenistan waren abwesend. Gerade im Hinblick auf die Ambitionen Putins, die Sowjetunion wieder auferstehen zu lassen, bleibt abzuwarten, welche Richtung die fünf Staaten zukünftig einschlagen werden.

Für einen umfassenden Einblick in die fünf „stans“, noch dazu kurzweilig und anregend verfasst, ist die Lektüre „Sowjetistans“ daher unbedingt zu empfehlen.


Erika Fatland

Sowjetistan

2020 Suhrkamp Verlag


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Titelgrafik:
Buchcover © Suhrkamp Verlag
Landschaftsfoto © Creative Commons: „From Osh to Toktogul, Kyrgyzstan: Hydropower Plant on the Naryn River“ (2018) der Flickr-User*in Ninara

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