Nach 1276 Seiten kommt es selten vor, dass der Roman aus der Hand gelegt wird und man nicht glauben mag, dass er bereits zu Ende ist. Nino Haratischwilis dritter Roman Das achte Leben (Für Brilka) (2014) ist jedoch genau so ein literarisches Werk. Wie bereits in ihrem Romandebüt Juja (2010) entfaltet das Sujet auch hier einen starken Sog, der es fast unmöglich macht, mit dem Lesen aufzuhören.
Die 1983 in der georgischen Hauptstadt Tbilissi geborene georgisch-deutsche Autorin, Theaterregisseurin und Dramatikerin hat mit ihrem Werk nicht nur eine georgische Familiensaga erzählt, die mehr als ein ganzes Jahrhundert überspannt – sie entfaltet auch ein regelrechtes Panorama der georgischen Gesellschaft. Dabei hat sie die Geschichten und die Lebenswege der einzelnen Charaktere in das jeweilige Zeitgeschehen eingewoben, in nicht weniger als die letzten Atemzüge des russländischen Reiches und den Übergang in das „sowjetische Jahrhundert“ (Karl Schlögel) bis zu dem Zerfall der UdSSR und in unsere Gegenwart hinein.

Der Roman besteht aus acht Büchern, betitelt jeweils nach den Namen jener Hauptpersonen, die im Fokus des Kapitels stehen. Die Unterkapitel tragen keine Namen, sondern werden durch Zitate markiert. So finden sich neben Aussagen politischer Akteure wie Lenin, Stalin („Der Tod eines Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen – nur eine Statistik“), Richard Nixon, Mao oder Swiad Gamsachurdia, und Zitaten von Lyriker*innen wie Anton Tschechow, Anna Achmatowa oder Marina Zwetajewa, auch Songtexte von David Bowie oder Deep Purple sowie Plakatsprüche („Für den Frieden wurde die sowjetische Rakete geschaffen“) und geben so punktuell Einblicke in die Momentaufnahmen des jeweiligen Zeitgeistes.
Despoten sind anfällig für Illusionen.
(Tschechow)
Die Geschichte beginnt mit dem Ururgroßvater der Erzählerin, der sich als „Schokoladenfabrikant“ zum Ziel gesetzt hatte, seinen Heimatort in der georgischen Provinz zum „Nizza des Kaukasus“ zu machen.
„wenn Tbilissi schon als Paris des Kaukasus galt“
Mit dem ganz besonderen Rezept für Heiße Schokolade beginnt sein Aufstieg. Diese Schokolade, von Haratischwili als „eine […] der Hauptfiguren“ charakterisiert, ist es jedoch auch, die die Schicksale aller Hauptpersonen über Generationen hinweg miteinander verknüpft und gleichsam als Damoklesschwert über ihnen schwebt – verflucht sie doch eine*n jede*n, der von ihr kostet… Oder vielleicht doch nicht?
Der rote Faden, der die Geschichten durchzieht, sind die Träume und Zukunftsvisionen der Hauptcharaktere, die an den politischen und gesellschaftlichen Realitäten zerplatzen. Das Entstehen von Beziehungen und Liebe entwickelt sich in einer ebensolchen Intensität wie sie zerbricht und der Autorin gelingt es, die Leser*innen in ihrer unnachahmlichen Sprachgewandtheit an Freude und Schmerz ihrer Figuren teilhaben zu lassen.
Ebenso ist es aber auch eine Geschichte der Frauen. Frauen, die sich der ihnen von der Gesellschaft zugeordneten Rolle zu widersetzen versuchen, deren Wünsche, Hoffnungen und Ziele oft genug auch gewaltsam zerschlagen werden und die trotz all dem dort weiterkämpfen und Stärke zeigen, wo die Männer an ihren verlorenen Lieben und falsch getroffenen Entscheidungen zerbrechen und zugrunde gehen.
Mit Das achte Leben (Für Brilka) hat Nino Haratischwili, deren Werke nicht umsonst bereits vielmals ausgezeichnet wurden, ein historisches und gesellschaftliches Meisterwerk der Gegenwartsliteratur geschaffen, das seinesgleichen sucht.
Nino Haratischwili
2014, Ullstein-Verlag
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Titelfoto © eigene Aufnahmen des Buchcovers & Pixabay
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