SCHMUTZIGES SALZ: RUSSLANDS ANGRIFF AUF UKRAINE AUS PETERSBURGER PERSPEKTIVE

Am Freitag, den 18. Februar kehre ich nach St. Petersburg zurück, wo ich lebe und studiere. Am Donnerstag, den 24. Februar kündigt Vladimir Putin eine militärische „Spezialoperation“ an und Russlands Armee überfällt Ukraine. In der Nacht vom 3. auf den 4. März verlasse ich das Land und strande in Riga. Eine Chronik, die gegen den Lauf der Zeit begehrt.

18.2.2022: Landeanflug im schneeigen Abendrot.

Petersburg: Luftschneisen als Lebensadern

Petersburg ist eine Metropole am Meer, deren unsichtbare Wälle aus Großstadtschmutz und Abgasen nur selten die kräftige Salzluft von der Küste passieren lassen. Die Ostsee, selbst wenig salzig, ist ihrerseits auf den Einstrom von sauerstoffhaltigem Salzwasser aus der Nordsee angewiesen, um das Leben und Überleben der Meeresbewohner gewährleisten zu können. Die zahlreichen Flüsse und Kanäle, die Petersburg in bauchförmige Quartale zergliedern, verlängern den lebenswichtigen Salzkorridor ins Stadtzentrum. Die geräumigen Luftschneisen, die über den Flüssen und Kanälen liegen, fungieren als Arterien, die die hungrige Stadtbourgeoise mit Salz und Sauerstoff speisen. Petersburgs stolzester Epitheton ist seit jeher die Bezeichnung als „Fenster nach Europa“ – eine griffige Chiffre für diesen vitalen Austauschprozess.

Die Neva – Lebensader der Nordmetropole.

Derzeit atmet es sich schlecht in Petersburg. Die Luft wird dünn, und das nicht erst seit Russlands Angriffskrieg auf Ukraine und der rapiden Repressionsspirale von mutigen Straßenprotesten und routinisierter Polizeigewalt der letzten Tage. Jedes Jahr werden die eleganten Fassaden der Stadtpaläste in gefälligen Pastellfarben getüncht, um die grauen Schlieren der Abgase zu überdecken. Der winterlich weiße Stadtschnee gerinnt binnen weniger Tagen zu unförmigen Haufen am Straßenrand, der den unsichtbaren Luftschmutz mit der Präzision eines naturwissenschaftlichen Experiments nachweist. Seit zwei Jahren destilliert das COVID-19-Virus, wie überall auf der Welt, die Luft zu einem potentiell tödlichen Cocktail. Seitdem bieten die überfüllten, leergeatmeten Cafés, Kneipen und Bars – ehedem Fluchtstätten vor der klammen Kälte und einer offiziös überformten Öffentlichkeit, die unter dem diffusen Druck von (Selbst-)Zensur steht – Linderung und Ablenkung nur noch im Gegenzug für die Teilnahme an einer viralen Todeslotterie, die vor allem Alte und Schwache dahinrafft. Ein Preis, der in Russland von Regierung und Gesellschaft bereitwillig gezahlt wurde, wie das monatelange Missverhältnis von (hohen) Infektionszahlen und (geringen) Schutzmaßnahmen verrät.

Am Ufer der Neva: Das Denkmal für die Opfer der politischen Repressionen der SSSR.

Atemnot und Erstickungstod

Gesellschaftliche Atemnot ist nichts Neues in Russland. Und doch markiert der 24. Februar einen Umschlagspunkt. Was als „individuelle“ Repressionen oder systematische „Mängel“ behandelt werden konnte, offenbarte sich in den letzten Tagen mit aller Klarheit als ein systematischer, schonungsloser und effizienter Angriff auf den ganzen Gesellschaftskörper. Der Krieg, den Russlands politisches System im Inneren führt – er erscheint erfolgsversprechender als die angestrebte Ukraineinvasion. Die düsteren Mahnmale der letzten Jahre – die stigmatisierende Brandmarkung von Menschen und Organisationen als „ausländische Agenten“, die Blockade zentraler Internetseiten und sozialer Medien, die gewalttätige Unterdrückung mehrerer Protestwellen und die anschließende Liquidierung der Organisationsstäbe des Protestpolitikers Aleksej Navalny – lösen nun ihre Versprechen ein und lassen ein neues Russland erkennen, das einen guten Teil seiner Bevölkerung in Luftarmut hält, bis zum billigend in Kauf genommen Erstickungstod. Leben degradiert zu Überleben. Persönliche Perspektiven meiner russischen Freund:innen? Flucht oder Freiheitsstrafe. Diese ausweglose Alternative schwebt über allen. Auch über denjenigen, die einen schambehafteten Weg des Weitermachens im eigenen Land finden.

Am verhängnisvollen Donnerstag, in dessen Morgenstunden die russische Invasion der Ukraine mit Artillerie- und Raketenbeschuss begann, bestätigte ein positiver Schnelltest meine Corona-Erkrankung. Am Tag der Anerkennung der Luhansker und Donezker Scheinrepubliken bemerkte ich bereits, was ich im Nachhinein „erste Symptome“ nennen würde. Ein zweiter Test, angesichts der offensichtlichen Krankheitssymptome überflüssig und allein von ungläubigem Wunschdenken getrieben, verschwimmt in meiner Erinnerung mit der fassungslosen Vergewisserung: Full-scale invasion of Ukraine?

In den nächsten Tagen – die man nun als die ersten Kriegstage zu bezeichnen pflegt, obwohl der Krieg in Ukraine schon Jahre andauert – schlich ich mich einem kranken, ängstlichen Schattenwesen gleich durch die menschenleere Dunkelheit der späten Nachtstunden, heimlich von Supermarkt zu Bank und Apotheke, um für alle Fälle gewappnet zu sein. Eingedeckt mit Lebensmitteln, Bargeld und Medikamenten begab ich mich in Isolation, die ich mir selbst verordnet hatte, um etwaig benötigte Ausnahmen ebenfalls selbstständig dekretieren zu können, weil ich dem russischen Staat, dem ich nie vertraut hatte und nun instinktiv auf alltäglicher Basis zu misstrauen begann, meine Erkrankung nicht meldete. 

Das Antlitz der Stadt in den ersten Tagen der Invasion

„Nein zum Krieg“ oder „Kein Krieg“? Protest und Propaganda

Der nächtliche Angriff auf Ukraine blieb im Tagesantlitz der nördlichen Hauptstadt unbemerkt. Ich notierte: Leben auf der Straße geht seinen gewöhnlichen Gang. Schick gekleidete Stadtbewohner:innen eilen zur Arbeit, stolz-gespannte Väter warten vor den Entbindungshäusern und verschlagene Verkehrspolizisten verteilen Strafzettel. An meiner Uni diskutierten wir an dem Tag die verschiedenen Spielarten der frühen formalistischen Kinotheorie, während unsere zitternden Finger verstohlen über die immer zahlreicheren Bilder von russischen Panzern, Raketen und Flugzeugen auf unseren Bildschirmen streichelten. Zum Geldholen hastete ich verstohlen mit gesenktem Blick, weil ich gleichzeitig wusste, dass ich es in meinem Gesundheitszustand nicht tun darf, und es angesichts des Kriegszustands tun muss. Am Abend begannen Demonstrationen und brutale Verhaftungen, als ob das eine wie eine symbiotische Naturerscheinung zum anderen gehöre. Die kurz wie klare Protestformel „Nein zum Krieg“ («Нет войне») wird zum neuralgischen Punkt, um den die staatlichen Zensurbehörden und die getriebenen kreativen Protestierenden ringen. In der deutschen Übersetzung ist die marginale Präposition „zum“ (deren Funktion im Russischen vom Dativ erfüllt wird) entscheidend, denn: „Kein Krieg“ («Нет войны») – das wäre die verlogene Losung, die russische offizielle Stellen seit Kriegsbeginn ausgeben, um den kriegerischen Charakter der Invasion zu verleugnen. Nach einer Woche inquisitorischer Wortjagd bleibt allein noch die antikriegerische Nicht-Aussage „**** *** *****“ («*** *****»), die sich in den sozialen Medien verbreitet. Wäre das russische politische System nicht schon seit Jahren taub für abweichende Äußerungen der Bevölkerung, würde die gesellschaftliche Opposition zum Hoffnungszeichen taugen – unter den gegebenen Bedingungen bleibt sie inmitten der Kriegsereignisse eine Randerscheinung, die der russischen Gesellschaft in Zukunft bestenfalls als „mildernde Umstände“ zugutegehalten werden wird. Mir haben es die antikriegerischen Statements, auf der Straße mitgehört, in Gesprächspausen aufgeschnappt und in den sozialen Netzwerken tausendfach geteilt, leichter gemacht, mich wieder meiner russischen Zunge («Язык») zu bedienen, die ich mit jahrelangem Fleiß trainiert und in den ersten Tagen des Konflikts an die Sprachlosigkeit verloren zu haben schien. Meine Zunge bäumte sich auf gegen die Sprache der Aggression bis ich an die russischzüngigen Ukrainer:innen dachte, die nun unter russischem Beschuss stehen.

Die Kreise der Katastrophe

Die psychischen Folgen sind verheerend, Alltagsunfähigkeit und Zusammenbrüche unter meinen Bekannten in Russland die Regel. Wir wurden gegen unseren Willen und mit Gewalt in eine neue Realität geworfen, gegen die wir nichts ausrichten können. In den ersten Tagen sind wir unfähig zu lesen, unfähig zu essen, unfähig zu schlafen. Wir hängen am Tropf der Nachrichten, die immer weitere Details einer Welt beschreiben, die niemals die unsere sein sollte. Unser geteiltes Trauma zeigt zweierlei: Erstens, wie reibungslos Großstädte ihre Bevölkerung in relativ homogene und isolierte Schichten teilen. Von den erheblichen Bevölkerungsteilen, die Putins Entscheidung unterstützen, höre und sehe ich nichts, obwohl es sie gibt. Zweitens, dass der russische Angriff auch gegen einen gehörigen Teil der eigenen Bevölkerung gerichtet ist. Während ich zu mir zu kommen versuche, denke ich an die unterschiedlichen Kreise der Katastrophe: In Deutschland schlafen Geschäftsleute und junge Menschen schlecht, weil die einen die steigenden Energiepreise und die anderen den dritten Weltkrieg fürchten. In Russland vergeht eine Generation vor Frust, Wut und Scham für den eigenen Staat. In Ukraine harren Menschen in den belagerten Städten aus, wo das Nötigste zu fehlen beginnt, sodass die Millionen Fliehender – grausame Verdrehung der Realität – als die „glücklich Geretteten“ erscheinen. 

Petersburg bei Nacht.

Schmelzendes Eis, schmutziges Salz

Ich spaziere nachts und werde nicht gesund. Sauge die Bilder der Stadt in mich auf. Negative Schnelltests und negative Nachrichten schwärzen mein Gemüt. Hastig mache ich photographische Aufnahmen unter schwierigen Lichtverhältnissen. Verstecke, wie ich ganze Straßenzüge mit der Kamera einfange. Verabschiede mich von Kreuzungen und Eckhäusern – alte Bekannte, von denen ich nicht weiß, ob sie bei meiner ungewissen zukünftigen Rückkehr noch stehen werden. Meine wirklichen Bekannten treffe ich nicht mehr. Ich erspare ihnen die Coronalotterie aus Sorge, dass zu den (vorzeitig) Gealterten und (psychisch) Geschwächten auch diejenigen zählen, deren Weltsicht unter dem Eindruck der Invasion gerade eben erst zerbrochen ist. Dann schleppe ich mich mit Hab und Gut (es ist viel, denn ich war gekommen, um zu bleiben) über die Grenze, die von Tag zu Tag undurchlässiger wird. In meiner Verlorenheit klammere ich mich an ein Bild, in dem ich Hoffnung suche: Ich stehe auf einer Brücke über der majestästischen Neva und sehe, wie das Eis zu schmelzen beginnt. Große dunkle Flecken durchziehen schon die Eisdecke. Der Wind fährt mir schmerzvoll in die Lungen, die den Sauerstoff nur widerwillig aufnehmen. Meine Lippen streift ein flüchtiger Geschmack – schmutziges Salz. 

Brechendes Eis auf der Neva.

Riga blau-gelb

In Riga – dessen Regierungsgebäude, Schaufenster und Straßenränder blau-gelb geschmückt sind – angekommen markiere ich mit einer Hast, für die es nun eigentlich keinen Grund mehr gibt, mein gesamtes Hab und Gut mit Aufklebern, die mir eine Petersburger Freundin zum Abschied mitgegeben hat:
«Нет войне».

4.3.2022: Die Freiheitsdenkmal in Riga, in die Nationalfarben der Ukraine getaucht.


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Titelgrafik © Jonas Benedikt für osTraum

2 Kommentare

  1. Johannes

    Vielen Dank, Jonas, für Deine persönlichen und poetischen Eindrücken vom Abschiednehmen aus Russland, vor allem auch für die Einblicke in die im Augenblick ohnmächtige Gegenmacht zu den Putinisten. Könnte man sagen, dass viele Probleme in der Förderation mit einer weit verbreiteten toxischen Männlichkeit zu tun haben?

    1. Jonas B. Wieschollek

      Hi Johannes. Ich antworte einfach mal vor Ablauf der 3-4 Tage, die das Nachdenken über diese gute Frage eigentlich mindestens voraussetzen würde, deswegen nur Bruchstücke:
      – toxische Männlichkeit – nicht auf Russland beschränktes Problem. Deswegen wäre die spannende Frage, ob tox. Männlichkeit in Russland besonders ausgeprägt ist oder besonderen Einfluss ausübt?
      – dafür gibt es einige Anzeichen. Feministische Bewegungen in Russland haben es schwer, insbesondere wenn sie sich in lgbtqi*-Zusammenhängen bewegen, die staatlicherseits seit Jahren als Russland-fremd, Europa-Import etc diffamiert werden.
      – Typisch ist zum Beispiel die Feier des Frauenkampftages in Russland, die im Wesentlich als kollektives männliches „Danke“ an alle „Frauen“ für all die Liebe, Schönheit und Sorge inszeniert wird mit Blumen, Pralinen und Küsschen. Bestes Beispiel im schlimmsten Sinne die letzte Ansprache zum 8. März von Putin: https://www.interfax.ru/russia/497595
      – auch in „liberalen“ russischen Kreisen laufen fem. Themen immer Gefahr, vergessen oder marginalisiert zu werden. Alltagsbeispiel: als 5 tendenziell oppositionelle Medien ein Interview mit Zelensky führen, sind nur männliche Journalisten dabei. Ups, blödes Bild: https://www.kasparov.ru/material.php?id=62415CC0E0711
      – in Sowjetzeiten gab es eine fem. „Emanzipation“ v.a. in der beruflichen Sphäre, sodass viel mehr Frauen schon viel früher in zahlreiche Berufe gegangen sind, in dieser Hinsicht tatsächlich z.B. deutschen Verhältnissen weit voraus. Der berechtigte Einwand heutiger fem. Gruppen in Russland ist aber, dass diese berufliche „Emanzipation“ in erster Linie zu einer Doppelbelastung von Frauen geführt haben, die nun neben der fortbestehenden Arbeit in Haushalt & Familie zusätzlich noch gearbeitet haben.

      Um den Bogen zu deiner Frage zurück zu schlagen: ja, kann mir gut vorstellen, dass da eine wichtige Verbindung ist. Aber nicht ganz leicht, den genauen Anteil von tox. Männlichkeit neben all den anderen Problemen (Imperialismus, Rassismus, Autokratismus…) der politischen Sphäre in Russland auszumachen…

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