Roadtrip nach Tschernobyl?

Das heutige Belarus hat am stärksten unter der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gelitten, denn die radioaktive Wolke verstrahlte 1986 große Teile des südlichen Gebietes der damaligen BSSR. Doch wie nah kommt man mit dem Auto an Tschernobyl heran? Diese Frage stelle ich mir während meines Auslandssemesters in Minsk. Ich leihe mir kurzerhand einen Mietwagen und fahre in den Süden von Belarus. Mein erstes großes Ziel ist die Gebietshauptstadt Homel. Von dort führt die Fahrt durch weite unbewohnte Gebiete und viel landwirtschaftliche Felder.

Kurz nachdem ich die zweitgrößte Stadt des Landes verlassen habe, tauchen erste Schilder auf, die vor Radioaktivität warnen: Pilze soll man nur pflücken, wenn man einen Geigerzähler dabei hat.

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Warnung vorm Pilze sammeln

Langsam wird mir unwohl und die 30km-Sperrzone um Tschernobyl, die man damals nach der Katastrophe gezogen hatte, kommt immer näher. Im Ort Rečyca am Dnjepr fällt mir eine große Wiese mit Solarpanels auf. Hier setzt man anscheinend auf Sonnenenergie, während an der Grenze zu Litauen das erste belarussische Atomkraftwerk entsteht. Trotz Proteste in der Bevölkerung.

Nach einer kurzen Pause am Dnjepr geht es weiter Richtung Süden. Kurz vor dem Ort Chojniki entdecke ich einen Waldspielplatz. Eine Rutsche für Kinder, Hütten, die zum Picknicken einladen – und ein Schild, das vor Radioaktivität warnt. Ob hier der richtige Ort ist, um ein Picknick zu machen und seine Kinder im Wald spielen zu lassen?

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Radioaktiv verstrahlter Kinderspielplatz

Ein Blick auf Google Maps sagt mir, dass ich 115 Kilometer vom Leninplatz in Tschernobyl entfernt bin. Mein Handy führt mich über einen großen Kreisverkehr mitten im Nichts. Direkt vor mir beginnt der belarussische Teil der Sperrzone und ein Soldat versperrt mir den Weg.

Ich biege links ab und fahre die Umgehungsstraße, die die Sperrzone umrundet und sich von Osten Tschernobyl und der ukrainischen Grenze nähert. Am Ort Brahin mache ich kurz Halt und werfe einen Blick auf die Anzeigetafel am Checkpoint: 0,51 µSv/h. Zum Vergleich: die durchschnittliche Umgebungsstrahlung in Deutschland beträgt 0,24 µSv/h – eine Röntgenaufnahme hat eine Strahlung von 10 – 30 µSv pro Aufnahme.

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Checkpoint zur Sperrzone in Brahin

Meine Fahrt führt mich kilometerweit mitten durch die Natur. Menschenleer möchte man meinen, so kurz vor Ground Zero. Doch immer wieder zwischendurch begegnen mir Menschen auf Fahrrädern oder zu Fuß und auch Landwirtschaft wird hier noch betrieben. Nach über 100 Kilometern einsamer Straße, kommt am Ende eine Kreuzung. Links geht es in die Ukraine – und rechts ebenfalls. Der südlichste Zipfel des Landes. Erstmals entdecke ich den Namen Tschernobyl auf einem Straßenschild: Ich biege rechts ab.

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Kreuzung am südlichsten Zipfel von Belarus. Links geht es nach Tschernihiv und rechts nach Tschernobyl, beides in der Ukraine.

Noch 31 Kilometer bis Tschernobyl. Ich rechne jeden Moment damit, dass ein Checkpoint zur Sperrzone kommt und mich aufhält. Nichts passiert. Die Straßenverhältnisse werden so schlecht, wie ich sie im ganzen Land noch nicht gesehen habe. Eigentlich sind die Straßen in Belarus weitaus moderner als in Russland oder der Ukraine. Hier so kurz vor Tschernobyl lohnt sich eine Reparatur wohl nicht. Und außer mir ist weit und breit kein Auto zu sehen.

Zehn Kilometer weiter kommt plötzlich ein kleines Dorf – Hdzjen. Ich bin erschüttert. Kinder spielen in der Natur, Hähne krähen, vereinzelnd arbeitet jemand im Garten. Google Maps sagt mir es sind noch 20 Kilometer bis Tschernobyl. Überall links und rechts stehen nun Warnschilder mit dem gelb-schwarzen Warnsymbol, Schranken versperren den Weg in den Wald.

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Das südlichste bewohnte Dorf in Belarus, Hdzjen, kurz vor der ukrainischen Grenze und ca. 20 Kilometer von Tschernobyl entfernt.

Die Straße jedoch führt weiter geradeaus. Kein Checkpoint, keine Grenze, kein Militär. Nach einigen Kilometern kommt ein Schild: „Stateborder. Crossing is prohibited!“ Nur ein kleines Schild, dass die Grenze zur Ukraine markiert. Kein Grenzübergang, kein Zaun, kein Mensch weit und breit. Theoretisch hält mich hier niemand auf.

Hier ist Endstation. Ein Schild markiert die Grenze zur Ukraine.

Ich beschließe dennoch umzukehren. Ein Blick auf Google Maps sagt mir, dass ich nach 12 Kilometern und 14 Minuten in Tschernobyl wäre. Trotzdem hätte ich erwartet, dass mich in so einer Gegend mehr aufhält als ein einfaches kleines gelbes Schild. Nachdenklich fahre ich zurück, erneut durch das kleine Dorf Hdzjen. Ich bin froh, dass ich heute Nacht wieder in Minsk bin.

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Rückfahrt am Fluss Prypjat entlang
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Alle Fotos © Dennis Rabeneick für osTraum


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