Für Übersetzungen ist die Poesie eine der schwierigsten Textgattungen. Was passiert aber, wenn die*der Dichter*innen an der Übersetzung beteiligt sind? Ohne Skills in der Zielsprache mag das eine komische Vorstellung sein, doch mit den richtigen Menschen kann es klappen.
Beim VERSschmugel / Překladiště trafen nicht nur 6 deutsche und 6 tschechische Autor*innen aufeinander, sondern auch 6 Übersetzer*innen oder besser gesagt Sprachmittler*innen. Die Poet*innen sollten die Gedichte ihrer Partner*innen in ihre jeweilige Sprache übertragen. Die Sprachmittler*innen halfen dabei mit Rohübersetzungen und bei der Diskussion über die richtigen Worte… über den richtigen Klang… über die richtige Bedeutung.

12 Menschen, die heute in benachbarten Ländern leben, fanden zusammen, um eine die Verse des jeweils anderen bei der Hand zu nehmen und sie in einen anderen Kontext zu führen. Eine Bedeutung wird mit anderen sprachlichen Mitteln realisiert. Dabei ist es letztendlich eindeutig keine Übersetzung und auch keine Übertragung. Es ist eher eine Umwandlung. Die Gedanken und Gefühle werden durch nüchteren Laute und das Beisammensein ihrer Schöpfer*innen zum neuen Leben erweckt. Sie migrieren in einen anderen Kulturkreis und bleiben doch im Universum der Poesie. Die Kultur ist hier aber nicht unbedingt mit den mittlerweile unsichtbaren Landesgrenzen verbunden. Die eigentliche Ebene ist viel persönlicher und gleichzeitig absoluter, wenn es um die Kultur eines Menschen geht. Denn die Dichter*innen kommen aus verschiedenen Umgebungen des Alltags – Journalismus, Schule, Politik, Wissenschaft, Buchhandel, Theater, Verlagswesen, Übersetzungen, Design, Vereins- und Kulturarbeit sowie Landwirtschaft.

Die eigentlichen Texte und dazu noch ihre Übersetzungen zu beschreiben oder gar zu bewerten wäre ein für dieses Format seltsamer Versuch, etwas unfassbares und feines in die Enge von Schubladen und Rahmen zu drücken. Deshalb hat osTraum beschlossen, die Werke und ihre anderssprachigen Geschwister auf einer Weise zu besprechen, die der ungewöhnlichen Publikation möglicherweise gerecht wird. Zu jede*r Dichter*in und dem Charakter ihrer Texte soll eine Quintessenz formuliert werden:
Steffen Popp – Goethliche Schwere im Schweben
Milan Děžinský – die erfasste Existenz im schmallen Grad und dicker Luft
Birgit Kreipe – ein Wortewinter und die Kühle der Erde
Božena Správcová – Reiz der Worte und magische Gedanken
Tom Bresemann – ein Messer im Bauch des Alltags
Jan Škrob – Majakowskijs & Roždestvenskijs Enkel
Carl-Christian Elze – Der Beobachter
Marie Šťastná – Němcovás Enkelin im Reflex der Dichtung
Nadja Küchenmeister – Zeichnungen nach de Saussure
Pavel Kolmačka – eine minimalistische Form oder ein explodierender Haiku
Léonce W. Lupette – prosa-poetische Hybridfusionen
Pavel Novotný – poeto-phono-visuelle Experimente
Dem Wunderhorn Verlag und allen beteiligten Wort-Künstler*innen ist mit dem Gedichtband ein Beispiel des zwischenmenschlichen Verständnisses gelungen. Ein Beispiel, das die Formalität von Grenzen anprangert ohne ein Wort darüber zu verlieren. Dafür schafft es eine enorme Zahl von Worten, die eine nachhaltigere Wirkung haben mögen. Eine Wirkung im innersten des menschlichen Strebens nach einer Gemeinschaft, in der das Individuum nicht untergeht, sondern von anderen gestärkt wird.
Eine Besonderheit zum Schluss: Mit dem Buch könnt ihr euch sogar die Stimmen der Autor*innen anhören. Zu jede*m Dichter*in gibt es im Buch einen QR-Code.
VERSschmugel / Překladiště
Verlage Wunderhorn & Protimluv
2019
Bildquelle: Eigene Aufnahmen, Buchcover + Seiten © Verlage Wunderhorn & Protimluv
osTraum auf Facebook