Unweit der Isaakievskij-Kathedrale, dem weithin sichtbaren Symbol St. Petersburgs, befindet sich ein zweiter Kirchenbau, in dessen Gemäuern sich die Geschichte Russlands der letzten zwei Jahrhunderte widerspiegelt. Die ehemalige deutsch-lutherische Kirche wurde zu Sowjetzeiten in ein Kulturzentrum umgebaut und ist in den 1990ern ins Eigentum des Russischen Post übergegangen.
Das ungewöhnliche Bauwerk hebt sich schon auf den ersten Blick deutlich von seiner Umgebung ab: Es überragt alle umstehenden Gebäude um ein Weites, tritt einsam aus dem Kreis der geschlossenen Straßenzüge heraus und nimmt einen prominenten Platz am Kanalufer ein. Ein zweiter Blick auf die Bauweise steigert die Verwunderung – hier vereinen sich Reliefdarstellungen sowjetischer Arbeiter(innen), in schlichten Kreissegmenten gehaltene Balkone und ausladende Fensterreihen, die den Innenraum in gleißendes Licht tauchen. Bei alle dem ziert das Gebäude eine Vielzahl grüner Baunetze, die keinesfalls auf laufende Bauarbeiten hinweisen, sondern lediglich den Zustand dauerhafter Baufälligkeit markieren.
Von 1862 bis 1865 ließ die deutsch-lutherische Gemeinde durch den Architekten Harald Julius von Bosse einen Backsteinbau errichten, um der florierenden Gemeinde ein eigenes Gotteshaus im multikonfessionellen Petersburg zu verschaffen. Sowohl der Grundriss – vom hochstrebenden Turm über den langgezogenen Saalbau zu dem eingeschossigen Anbau – als auch die üppigen Seitenfenster sind noch im heutigen Bauwerk auszumachen.
Mit der Schließung der Kirche unter dem Druck der Sowjetregierung im Jahr 1929 war ausgemacht, dass das Bauwerk auch architektonisch nicht als Kirchenbau bestehen bleiben kann. Die Fresken sowjetischer Arbeiter und die schlichten Balkone gehen auf widersprüchliche Tendenzen während der Umbauarbeiten in den 1930er Jahren zurück. Den zunächst in einfachen geometrischen Formen gehaltenen Entwurf ergänzten die Architekten Grinberg und Rajz nachträglich um Schmuckelemente, die dem dem Konstruktivismus den Rang ablaufendem Stalinklassizimus Rechnung tragen.

Die Bildsprache der nachträglich hinzugefügten Schmuckelemente bewegt sich im Rahmen der Sowjetideologie: Vor mächtigen Sonnenstrahlen vereinigen sich Hammer (Arbeiter) und Sichel (Bauer) zum Wappen der Sowjetunion, entschlossen blicken die Statuen eines Rotarmisten und eines Proletariers in jene sozialistische Zukunft, der Männer, Frauen und Kinder auf dem Fresko geeint entgegen schreiten. Ab der Eröffnung im Jahre 1939 fungierte der Bau als Kulturhaus der Mitarbeiter des sowjetischen Fernmeldewesens, in dem Konzerte, Filmführungen und zahlreiche Clubs stattfanden: Er bleibt ein Raum der Gemeinschaft, doch die deutsch-lutherische Gemeinde wird durch das sowjetische Arbeitskollektiv ersetzt.
Die turbulenten neunziger Jahre mit dem Zerfall des Sowjetunion zeichnen verantwortlich für diejenigen Merkmale des Gebäudes, die in keinem Bauplan vorgesehen sind: Kritzeleien und elaboriertere Graffiti zieren die Wände, Rost frisst sich in die Metallelemente und das rote Backsteingemäuer wirft stellenweise den Putz ab. Seit den 2000ern steht das Gebäude, das heute eine Bildungseinrichtung der russischen Post beherbergt, auf einer staatlichen Liste geschichtlicher und kultureller Baudenkmäler, doch die neue Funktion und der neue Status machen sich nicht bemerkbar: von Lehrbetrieb und Erhaltungsarbeiten keine Spur.
Stattdessen erfüllt der ehemalige Kirchenbau im gegenwärtigen Stadtleben eine profane Funktion, die ihm niemand zugedacht hatte. Als auffällige Landmarke zwischen Marinskij-Theater und Newskij-Prospekt dient er als Orientierungspunkt im Stadtverkehr. Eine Landmarke freilich, die sich für einen innehaltenden Betrachter jederzeit in einen Spiegel der Geschichte verwandeln kann.
Bildquellen: Historische Aufnahmen sowie Fassadendetails © www.citywalls.ru. Ansonsten eigene Aufnahmen.