Lads’ Stories: Sachar Prilepin und die Suche nach der verlorenen Zeit

„Es war mal die Zeit“, so liest es sich zwischen den Zeilen in den Erzählungen von Sachar Prilepin. Sind es wahre Geschichten oder Fiktion, autobiografisch oder ausgedacht? Die Grenze zwischen dem Echten und dem Unechten verschwimmt, und es ist auch gut so. Das Ergebnis: ein Zeitdokument, ein Ausschnitt aus dem Leben der Generation, die in den 1990ern erwachsen geworden ist. Ohne Heimat und ohne des Glaubens an den Staat, auf sich allein gestellt und verloren. Aber auch frech, jung, optimistisch und naiv. Irgendwo in der russischen Provinz, nicht in Moskau. Am Steuer einer LADA und nicht eines BMWs. Verliebt in die Freundin eines Kriminellen, die aber kein Top-Modell ist. Ohne Kohle, aber mit Zigaretten in der Hosentasche.

Zwischen zwei Erzählungsbänden von Prilepin „Ботинки, полные горячей водкой“ (dt.: „Schuhe mit heißem Wodka“) und „Восьмёрка“ (dt.: umgangssprachlich für das russische Automodell LADA Samara ВАЗ-2108) liegt ein Zeitabschnitt von vier Jahren. Die Idee dahinter bleibt aber dieselbe. Das Leben von „patsany“ (engl.: lads, dt.: Burschen, Kumpel) läuft wie ein roter Faden durch alle Erzählungen. Und hier bleibt der Autor immer präsent. Seine Persönlichkeit findet sich mal in einem kleinen Jungen („Витёк“), einem Teenager („Верочка“), einem jungen Burschen („Пацанский рассказ“) oder schon in einem erwachsenen Mann („Восьмёрка“) wieder. So unterschiedlich diese Lebensphasen sind, so divers sind auch die Situationen, das Verhalten, die Gefühle von Hauptdarstellern selbst. Alltagsgeschichten, die faszinieren, nostalgische Gedanken an die eigene „пацанство“ (vgl. mit der Jugend, der Teenager-Zeit) hervorrufen … oder auch einfach nur gleichgültig lassen? Die Sichtweise und der Humor von Sachar Prilepin können gefallen, aber auch abstoßen.

Auf Deutsch ist bis jetzt nur Sachar Prilepins Roman „Sankya“ (2012, Matthes & Seitz) über den jugendlichen Rebellen aus einer regimekritischen Gruppierung erschienen. Als informelles Mitglied der National-Bolschewistischen Partei und der Mitstreiter an der Seite der nicht anerkannten Volksrepublik Donezk, bleibt Sachar Prilepin sowohl in seiner Heimat als auch im Ausland eine höchst umstrittene Persönlichkeit. Der kleine Exkurs in „Пацанские рассказы“ (engl.: Lads’ Stories) aus der russischen Provinz ist nichtsdestotrotz (oder genau deshalb) lohnenswert. Da authentisch, parteiisch, kontrovers. Ob die Erzählungen mit dem grenzenlosen Patriotismus oder dem stereotypen „Russensein“ überfüllt sind? Das kann jeder für sich selbst entscheiden. Eine Übersetzung der Erzählungen ins Deutsche lässt aber nach wie vor auf sich warten.

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Demnächst auf ostraum.com: „Break Loose“ – die Verfilmung der Sachar Prilepins Erzählung „Восьмёрка“: Top oder Flop?


Bildquelle: eigene Aufnahme, Buchcover © Издательство АСТ Москва

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